Werbung und Sprache:Von allen Sinnen

Wie schrecklich wäre die Welt, wenn die Werbung wahr wäre: Eine neue geistlose Werbeformel fordert penetrant das Genießen "mit allen Sinnen".

Alexander Kissler

Die Finger einer Hand reichen aus, um sich zu vergewissern: Fünf Sinne hat der Mensch. Er kann sehen und hören, kann riechen und schmecken und tasten. Wer die Komplexität des Homo Sapiens dadurch ungenügend abgebildet sieht, der kann einen sechsten Sinn hinzudenken, vielleicht jenen, der für das Gleichgewicht sorgt. Auch ein siebter Sinn soll gerüchteweise vorhanden sein und Ahnungen ermöglichen. Auf keinen Fall haben es die Sinne verdient, dass sie allesamt permanent gereizt werden müssen, um den Menschen ein wenig Glück zu schenken. Nichts anderes aber behauptet jene unverwüstliche Werbefloskel, die derzeit wieder ein Comeback erlebt: "Mit allen Sinnen ..."

Sinnenpark Gutach

Wenn wir ständig überall "mit allen Sinnen" konfrontiert wären, würden wir vor Reizüberflutung bald gar nichts mehr riechen, schmecken, tasten, sehen oder hören.

(Foto: dpa)

Wer auch immer was auch immer an wen auch immer verkaufen will: Fast jedes Produkt soll "mit allen Sinnen" konsumierbar sein. Hotels versprechen "Urlaub mit allen Sinnen", Innenausstatter und Architekten und Möbelhäuser ein "Wohnen mit allen Sinn", Orchester präsentieren "Klassik mit allen Sinnen" und Erlebnispädagogen ihr "Lernen mit allen Sinnen".

Insolvenz mit allen Sinnen?

Gasthäuser, Schwimmbäder, Bettenhersteller wollen zum "Genießen mit allen Sinnen" verführen und Managementberater zum "Entscheiden mit allen Sinnen". PR-Agenturen wissen, wie man "mit allen Sinnen überzeugt", und ein Pianist bewirbt seinen Klavierabend als "Kulturgenuss mit allen Sinnen". Bald wird es vermutlich extrem kundenorientierte Finanzberater geben, die eine "Insolvenz mit allen Sinnen" anpreisen.

Nähme man die wechselseitig voneinander abschreibenden Werbestrategen beim Wort, wäre das multisensorische Erleben ein perfekter Kaufverhinderungsgrund. Wer will schon auf einem Bett schlafen, das nachts Geräusche von sich gibt und zugleich Düfte absondert? Wer will einem klassischen Konzert beiwohnen, bei dem jeder Besucher erst einmal die Geigensaiten ertasten und das Parfüm des Dirigenten riechen muss? Wer will in ein Haus ziehen, das permanent knarzt und zischt und alle Winde in sich einlässt? Wer wollte einem Manager trauen, der seine Entscheidungen auf olfaktorische Eindrücke baut?

Humbug, Tinnef, Kokolores ist die Schwindelfloskel von den per Kaufentscheid aktivierten vollzähligen Sinnen. Ihre penetrante Allgegenwart zeigt, dass die umworbene Klientel von den Sinnen sehr gut und von deren Gegenstück, dem Geist, eher schlecht denken soll. Der Mensch soll ganz Mensch sein, wo er schnüffelt und berührt und transpiriert, und nicht unbedingt dann, wenn er denkt. Als Kunde soll er überrumpelt, nicht überzeugt werden.

Außerdem aber birgt die Formel eine zweite, eher beruhigende Erkenntnis: Vollendet schrecklich wäre erst eine Welt, in der die Werbung wahr wäre.

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