Weltgeschichte:Großmachtlos

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"Sowjetisch, das heißt hervorragend" von 1963: Propaganda einer Zeit, die viele Russen für die goldene halten.

(Foto: imago/United Archives Internatio)

Großbritannien, Spanien, Russland: Viele Imperien mussten nach ihrer Niederlage oder ihrem Zusammenbruch den Übergang zum Nationalstaat hinnehmen. Nicht allen ist dieser Schritt gelungen.

Von Jürgen Osterhammel

Die Geschichte der Imperien hält kaum prognosetaugliche Erkenntnisse bereit. Das magische Wort "Imperium" ist auf alle möglichen großflächigen Machtsysteme vom Akkadischen Reich im 3. Jahrtausend bis zu den heutigen Resten einer Pax Americana angewandt worden. Es kann in die Irre führen, wenn der Eindruck entsteht, Imperien seien gleichförmig konstruierte Machtmaschinen, die immer und überall derselben Logik gehorchen: Aufstieg, Höhepunkt und Fall.

Obwohl nicht falsch, ist dies doch eine Binsenweisheit. Dass jedes Imperium irgendwann sein Ende findet, kann nur von der Selbstideologisierung des Nationalstaats her erstaunen. Nationen und Nationalstaaten vergessen ihre historisch späte Geburt und halten sich für unauslöschlich. Über dem Imperium hingegen schwebt die Melancholie der Dekadenz.

Fünf Kräfte können ein Imperium in den Untergang treiben: militärische Niederlagen, unfinanzierbare Überausdehnung, Aufstände der Unterworfenen an den Peripherien, schwindende Unterstützung durch Machthaber und Bevölkerung im Zentrum sowie große Naturkatastrophen. Nicht diese Liste an sich ist interessant, sondern die Kombinatorik der einzelnen Faktoren. Sie ergibt sich in jeder historischen Situation auf besondere Weise. Deshalb wiederholen sich imperiale Rückschläge und Untergänge selten nach demselben Drehbuch. Wenn sie es dennoch tun, sind oftmals naheliegende Lehren nicht gezogen worden.

In kurzlebigen Kriegsimperien wie denen Napoleons und des nationalsozialistischen Deutschland konnten innere Prozesse der Konsolidierung und des Verfalls nicht ausreifen; diese Gebilde wurden von außen zerschlagen. Wenn ein Imperium länger bestand, ist es durch Phasen der Expansion und der Kontraktion hindurchgegangen, des Blicks in den Abgrund und der neuen Machtkonzentration. Dann lief der imperiale Zyklus nicht stetig und rund.

Das langlebigste der heute noch existierenden Imperien, das chinesische, ist seit seiner Gründung 221 vor Christus mehrmals in Teilstaaten zerfallen, zuletzt zwischen 1912 und 1949. Nach dem Verlust von dreizehn nordamerikanischen Kolonien erfand sich das British Empire in Asien neu; den großen Aufstand in Indien 1857 überstand es knapp; nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 schien sich in Afrika ein "Third British Empire", ein Drittes Britisches Reich, zu festigen. Das erste französische Kolonialreich verschwand zwischen dem Rückzug aus Kanada 1763 und der Unabhängigkeitsrevolution auf Haiti 1804 beinahe von der Landkarte. Nach dem Intermezzo von Napoleons Kontinentalimperium wurde ab 1830 ein drittes französisches Kolonialreich neu aufgebaut. Nach verlorenen Kriegen in Indochina und Algerien kollabierte es zwischen 1954 und 1962. An Imperien fällt weniger ihre machtvolle Kontinuität als ihre Fähigkeit auf, bis zum unvermeidlichen Ende eine Kette von Beinahe-Zusammenbrüchen zu überdauern.

Das postkoloniale Spanien war so schwer traumatisiert wie keine andere Nation Westeuropas

Auch Russland hat solche dramatischen Momente der Wiederauferstehung erlebt: nach dem Sieg über Napoleon 1812/13, nach dem Krimkrieg, nach der Oktoberrevolution. Trotz ihrer international schwachen Position schaffte es die junge Sowjetmacht zwischen 1919 und 1924, die schon abgefallene westliche und südliche Peripherie des Zarenreiches - vom östlichen Weißrussland bis nach Kasachstan - in die Union zurückzuholen. Den chinesischen Kommunisten gelang ein ähnlicher imperialrestaurativer Kraftakt, als sie 1949 bis 1951 das fragmentierte China in nahezu den maximalen Grenzen des Qing-Reiches von 1790 wiedererrichteten; Tibet wurde 1959 endgültig unterworfen. Die Gründung der beiden sozialistischen Großmächte, der Sowjetunion und der Volksrepublik China, als quasi-imperiale Vielvölkerstaaten gehört zu den wichtigsten geopolitischen Grunddaten des 20. Jahrhunderts.

Es ist eine bittere Pointe aus der Sicht großrussisch gesinnter Herrscher in Moskau, dass der alte Nachbar und Konkurrent China sich als die erfolgreichere Imperialmacht erwiesen hat. Das erste und letzte der klassischen Imperien behandelt seine Minderheiten, also etwa Tibeter, Uiguren und Mongolen, nicht als gleichberechtigte Staatsbürger, sondern als koloniale Untertanen. Es baut in Zentral- und Südostasien Einflusssphären aus, die es nicht militärisch erobern muss, um wirtschaftlich von ihnen zu profitieren und sie politisch dem Einfluss dritter Mächte zu entziehen.

In Lücken, die heute Russland oder die USA lassen, kann China vordringen und dies mit einer Rhetorik des allseitigen Nutzens begründen, etwa im infrastrukturellen Projekt einer "Neuen Seidenstraße" quer durch Eurasien. Dadurch sollen öffentliche Güter kostenfrei angeboten werden, eine Großzügigkeit, die sich nur Imperien auf der Höhe ihres Selbstbewusstseins leisten können.

Anders als Russland hat China die Chancen von soft power entdeckt: Es gibt kein russisches Gegenstück zu den in aller Welt entstehenden Konfuzius-Instituten und zur ökologischen Führungsrolle, die China neuerdings international anstrebt. Im Unterschied zu den USA und der Sowjetunion oder Russland hat die Volksrepublik seit dem Koreakrieg von 1950 Interventionen jenseits der eigenen Landesgrenzen meist vermieden und scheint sie, sieht man von der "abtrünnigen Provinz" Taiwan ab, auch nicht in Erwägung zu ziehen.

Im Vergleich zur zeitgemäßen Imperialpolitik Chinas nehmen sich brachiale Gewaltaktionen wie die Annexion der Krim, der verdeckte Krieg in der Ostukraine und die russische Syrienintervention archaisch aus. Sind sie opportunistische Gelegenheitsmanöver oder der Beginn einer systematischen Re-Imperialisierung?

Die Geschichte der Imperien im 20. Jahrhundert gibt darauf keine eindeutige Antwort. Eine Re-Imperialisierung, wie sie Agnia Grigas in ihrem Buch "Beyond Crimea: The New Russian Empire" zu erkennen glaubt, wäre zeithistorisch ohne Vorbild. Zwischen 1947/48, als Südasien in den drei Teilstaaten Indien, Pakistan und Sri Lanka von Großbritannien unabhängig wurde, und 1974, als sich Portugal während der "Nelkenrevolution" aus seinen afrikanischen Besitzungen zurückzog, zerfielen die westeuropäischen Überseeimperien. Überall akzeptierten Politiker und Öffentlichkeit in relativ kurzer Zeit den Verlust von Kolonien und imperialem Status und freundeten sich mit der reduzierten Rolle gewöhnlicher Nationalstaaten an.

Nur zweimal und noch vor dem Beginn der eigentlichen Dekolonisation wurden Versuche zur Rückeroberung bereits befreiter Gebiete unternommen: ab 1946 durch Frankreich in Indochina und 1947/48 durch die Niederlande in Indonesien. Beide Aktionen scheiterten.

Wie viel imperiale Nostalgie gab es? Sie hatte die spanische Politik und Kollektivmentalität nach dem Verlust des Restimperiums 1898 im Krieg mit den USA auf Jahrzehnte belastet. Spanien war die postkolonial am nachhaltigsten traumatisierte Nation Westeuropas. In Deutschland blieb der Kolonialrevisionismus nach 1918 virulent, aber nur als Teil eines größeren Versailles-Syndroms; die armseligen deutschen Kolonien ließen sich mit dem einstigen Weltreich Spaniens kaum vergleichen. Der NS-Imperialismus drängte nach Osteuropa, nicht nach Afrika. Ihm ging es nicht um paternalistische Kolonialherrschaft, sondern um "Lebensraum" für Siedler und um Versklavung oder Auslöschung der Unterworfenen. Imperiale Folgeprobleme beschränkten sich in der Bundesrepublik auf Lobbyismus und Folklore der Vertriebenen. Niemand sehnte sich nach einem Imperium zurück.

In den Ex-Kolonialmächten Westeuropas spielte Retro-Imperialismus eine kaum größere Rolle. Selbst die politische Rechte machte ihn nicht zum Programm. In den Niederlanden und Belgien war man rasch froh, von den überseeischen Bürden Indonesien und Kongo befreit zu sein. Wirtschaftliche Verluste beschränkten sich auf einzelne Firmen und fielen volkswirtschaftlich kaum ins Gewicht. In Frankreich definierte General de Gaulle, eine Führerfigur von unanfechtbarer patriotischer Autorität, ein postimperiales, "hexagonales" Nationalbewusstsein, das sich aus einer Seniorrolle in Europa speiste. Nach dem Ende des Algerienkrieges trauerten nur noch geflohene Siedler der Kolonialepoche nach. Das Militär wollte an die Niederlagen nicht mehr erinnert werden, die Wirtschaft war europäisch orientiert.

Nur die portugiesische Armee kämpfte bis 1974 weiter. Kolonialbesitz und Kolonialkriege samt der Diktatur, die damit verwoben war, hatten dem Eintritt in den europäischen Klub, von der Bevölkerung gewünscht, lange im Wege gestanden. Die europäische Integration - in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren eine Wohlstandsmaschine fast ohne Verlierer - bot den Ökonomien und Nationalmentalitäten auf dem europäischen Festland eine mehr als kompensatorische Auffangstruktur. Es fiel nicht schwer, die Imperien zu vergessen.

Besonders geräuschlos schrumpfte das British Empire, das größte von allen und das einzige, das alle Kontinente umfasst hatte. Die Dominions Kanada, Australien und Neuseeland waren in einem langen und friedlichen Prozess von Kolonien zu gleichberechtigten Partnern geworden. Indien war seit den Dreißigerjahren im Grunde unregierbar. Informeller Einfluss im Nahen Osten verflüchtigte sich als Folge eines gigantischen Eigentors, der Suez-Krise von 1956, als die USA den Abbruch eines britisch-französisch-israelischen Angriffs auf Ägypten erzwangen. Danach wurden auch die Tories zu Befürwortern eines geordneten Rückzugs. Das verbliebene Empire war bereits seit den Fünfzigerjahren ökonomisch kaum mehr zu halten.

Europas heutige Rassisten sind keine Neo-Imperialisten. Sie meiden alle "Fremdrassigen"

Aber ein wichtiges Erbe blieb: die weltweite Verbreitung der englischen Sprache, Londons Stellung als globales Finanzzentrum, gute Beziehungen zu vielen Ex-Kolonien als Primus inter Pares im Commonwealth. Die Brexit-Befürworter des Jahres 2016 sind kleinenglische Biedermänner. Niemand will die Royal Navy aussenden und Jamaika oder Singapur zurückholen.

Überhaupt ist der xenophobe Nationalismus, der heute von Frankreich bis Ungarn Europa überzieht, kein Ausdruck neoimperialer Expansionsträume, sondern im Gegenteil ein postimperialer Abwehrnationalismus mit hohem Rassismuspotenzial. Das macht ihn alles andere als sympathischer. Die extremsten Rassisten sind immer Gegner eines klassischen Imperialismus gewesen. Sie wollten "Fremdrassige" nicht regieren, sondern den Kontakt mit ihnen minimieren - durch Distanz, Segregation oder Vernichtung.

Die beiden einzigen Fälle von Neo-Imperialismus in der heutigen Welt passen in kein übergreifendes Muster: Russland und die Türkei. Die osmanischen Sultane sahen sich als Herrscher über ein Vielvölkerreich. Präsident Erdoğan will keineswegs die kemalistische Gründung eines kleintürkischen Nationalstaats rückgängig machen; er greift nicht nach dem Balkan und will Saudi-Arabien nicht die Schutzherrschaft über die heiligen Stätten entreißen. Sein halbierter Sultanismus ist wenig mehr als das historisierende Nationalkolorit eines postimperialen Politikbosses.

Der Fall Russland hat eine völlig andere Dimension. Der russische Staat hat innerhalb kürzester Zeit einen in Friedenszeiten einzigartigen dreifachen internationalen Machtverfall erlebt: als imperiales Zentrum gegenüber dem Baltikum, Weißrussland, der Ukraine und Mittelasien, als militärisch präsenter Hegemon in einer ostmitteleuropäischen Blocksphäre und als von den USA respektierte nukleare Gleichgewichtsmacht mit weltweiter Bedrohungsreichweite. Hinzu kamen der Wohlfahrtsabsturz der Bevölkerung in der Ära Jelzin und die Zersetzung der staatlichen und quasistaatlichen Organe durch Korruption. Dies widerfuhr einem Land, dessen Herrscher sich seit Iwan dem Schrecklichen als Führer einer erstrangigen Großmacht gesehen hatten.

Nicht zufällig ist eine hysterisch beschworene "Größe" zum Leitwert der Politik geworden. Eine vielfache Degradierung solchen Ausmaßes auf der Skala der internationalen Hierarchie war mit keinem anderen Dekolonisationsprozess des 20. Jahrhunderts verbunden. Auffangstrukturen wurden in den entscheidenden Neunzigerjahren nicht geschaffen. Die "Sieger im Kalten Krieg" feierten sich zu laut.

Jürgen Osterhammel lehrt Neuere Geschichte an der Universität Konstanz. Sein Buch "Dekolonisation. Das Ende der Imperien" (zusammen mit Jan C. Jansen, C. H. Beck Verlag, 2013) erscheint in erweiterter Form im Januar bei Princeton UP.

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