In der Prominenz des Gewöhnlichen liegt ein Trost, der den Lesern dieser dicken Bücher höchst willkommen zu sein scheint: Kein Leben ist so bedeutungslos, verstehen sie, als dass es nicht seinen Platz in der großen Erzählung finden könnte - auch Karl Ove Knausgårds Welterfolg "Mein Kampf", eine Romansuite in sechs Folgen, gehorcht diesem Prinzip (wobei das Gesicht dieses Autors allerdings sehr bekannt ist).
Aus demselben Grund dient allein schon der Umstand, dass fast zweitausend Seiten zur Beschreibung zweier Leben oder eines Lebens in zwei Varianten aufgewendet werden, der Befriedung der Leserseele - und die sechzig Jahre, die sie umspannen, sind lang genug, um auch die unangenehmsten Erfahrungen in den Lauf der Zeit sinken zu lassen.
Ein Trost liegt schließlich auch im zentralen Motiv der Suite, der lebenslangen "Freundschaft" zweier Frauen. Männer kommen und gehen, die Kinder erweisen sich bald als fremde Wesen - die "Freundschaft" aber offenbart sich als etwas frei und immer wieder neu zu Bestimmendes. In diesem Motiv mag etwas Resignatives stecken. Doch es taugt immer noch als Emblem der weiblichen Emanzipation.
In einer Rezension für die London Review of Books schrieb die Kritikerin Joanna Biggs: "Sind Elena Ferrantes vier neapolitanische Romane überhaupt Bücher? Ich begann daran zu zweifeln, als ich mit anderen Menschen - hauptsächlich Frauen - über sie sprach.
Sobald wir anfingen zu reden, wandten wir uns schnell wieder dem Leben zu: Wer war deine Lila, die Kindheitsfreundin, die jedermann mühelos überwältigte? Oder - eine Frage, die man nicht gern beantwortet: Warst du Lila?"
Wunsch einer unendlichen Rivalität
Die Ineinssetzung von Buch und Leben ist als höchstes Lob gemeint. Aber was bedeutet sie tatsächlich? Dass man in den Büchern nachlesen kann, was man selbst erlebt hat, womöglich in überhöhter, mystifizierter Form? Dass Literatur dazu dient, das Publikum in seinen Ansichten über sich selbst und die Welt zu bestätigen, mithin die imaginäre Selbstfindung, gar Selbstfeier der Leserin zu befördern - das war, jedenfalls bis vor einiger Zeit, ein zuverlässiges Zeichen von, nun ja: Kitsch.
Dass sowohl Lila als auch Lenù versuchen, ihrer Herkunft zu entkommen, mit jeweils verschiedenen Mitteln, lässt sich als zentrales Motiv eines realistischen Romans nachvollziehen.
Fantastisch erscheint hingegen, was in diesen Büchern diesem Motiv hinzugefügt ist: die Behauptung nämlich, der innerste Kern ihrer "Freundschaft" bestehe in dem Wunsch, so zu sein wie die jeweils andere (oder eben gerade nicht) - also in einer unendlichen Rivalität. Diese Behauptung stellt den Realismus der Geschichte auf den Kopf.
Denn so betrachtet, sind Lila und Lenù eher Ausdruck einer kalkulierten Konstellation, als dass sie Figuren wären, denen man eine Ähnlichkeit mit lebenden Menschen nachsagen könnte. Wenn Realismus aber auf Berechnung beruht: Wie realistisch ist er dann?
Mehr von Lisbeth Salander als dem realistischen Anspruch zuträglich ist
Lila ist eine Kunstfigur, eine Projektionsfläche für die kindliche Fantasie einer ebenso überlegenen wie verborgenen Macht. Und Lenù ist ihr notwendiges Gegenüber, die Mittelmäßigkeit, an der sich die Überlegenheit erst erweist. In Lila aber steckt mehr von Lisbeth Salander, der Fantasy-Figur im Zentrum der "Millennium"-Romane des schwedischen Kriminalschriftstellers Stieg Larsson, als dem realistischen Anspruch des Projekts zuträglich wäre.
Im vergangenen Jahr, als der vierte und letzte Band der Suite in Italien erschienen war, veröffentlichte der Literaturkritiker Jacopo Cirillo in der italienischen Internet-Zeitschrift Linkiesta eine "abschließende Rezension": Die Tetralogie, erklärte er, sei eine große Erzählung, die dafür sorgen werde, dass die italienische Literatur im Ausland besser wahrgenommen werde. Doch im Grunde handele es sich dabei um nicht mehr als um "perfekte Literatur für Menschen, die wenig lesen".
Mit diesem Urteil trifft er ins Schwarze: "Die geniale Freundin" ist, wie die gesamte neapolitanische Suite, ein geschickt komponiertes, unterhaltsam geschriebenes und clever lanciertes Werk. Wäre jedoch der Unterschied zwischen Trivial- und Hochliteratur noch lebendig, den der Buchmarkt verschluckt zu haben scheint wie der neapolitanische Keller die Puppen der beiden Heldinnen: Es gäbe keinen Zweifel, wohin diese Romane gehören.