Süddeutsche Zeitung

Serie "Welt im Fieber": Kenia:Das erste Trauma mit zwei Jahren

Unsere Autorin könnte viele Bücher füllen, wenn sie jede Demütigung auflisten würde, die sie wegen ihrer Hautfarbe erfahren hat. Hier schreibt sie über die Erkenntnis der vergangenen Woche.

Gastbeitrag von Zukiswa Wanner

Einer meiner Freunde hat Ende letzter Woche bei Facebook gepostet: "Wann haben Sie für sich erkannt, dass black lives matter"? Ich formulierte diese Frage für mich ein wenig um und spitzte sie so zu: "Wann haben Sie für sich erkannt, dass man Sie für weniger wert hält?" Ich beantwortete sie sofort: Da war ich zwei Jahre alt.

Dies war mein allererster Gedanke. Ich war so verblüfft, dass ich gleich meine Mutter in Australien anrufen musste, um sie zu fragen, ob ich mir das nicht einbilde. Doch sie bestätigte meine Empfindung.

Damals: Eine politische Aktivistin aus dem damaligen Rhodesien, die nach Sambia verbannt worden war, verliebte sich dort in einen südafrikanischen Aktivisten. Aus der Verbindung dieser beiden bin ich hervorgegangen. Als ich zwei Jahre alt war, beschloss meine Mutter, mich in das damalige Rhodesien, jetzt heißt es Simbabwe, zu schmuggeln, damit meine Großeltern mich erstmals sehen konnten. Meine Mutter ist das älteste Kind in einer achtköpfigen Familie, allein deshalb hatte das Treffen mit ihren Eltern schon eine ziemliche Bedeutung. Wir kamen jedoch gar nicht erst zu ihnen. Denn wir wurden beim illegalen Grenzübertritt erwischt und gleich verhaftet. Und hier beginnt denn auch die Geschichte meines ersten Traumas.

Bis ich zehn Jahre alt war, fürchtete ich mich vor Weißen

Ich erinnere mich, wie ich geweint habe, als dieser weiße rhodesische Polizist meiner Mutter immer wieder in die Brust stieß und ihr Fragen stellte. Sie versuchte, mich ruhig zu halten, während sie gleichzeitig in dem Verhör antwortete. Wir wurden schließlich von meinem Großvater mit Unterstützung einiger politischer Aktivisten, die im Land waren, freigekauft. Doch bis ich zehn Jahre alt war, fürchtete ich mich vor Weißen, und ich dachte, dass sie alle Englisch sprechen. Und zwar alle so schroff und bedrohlich wie der Polizist, der meine Mutter verhört hatte.

Im Alter von zwölf Jahren habe ich diesen kindlichen Glauben überwunden. Ich bin auf einer Schule, in der auch einige Weiße sind. Eine meiner Freundinnen ist Charlie. Sie ist so alt wie ich, aber eine Klasse unter mir. Sie wohnt in derselben Straße. Wir haben viel Spaß zusammen, teilen Geschichten über die Jungs, in die wir verknallt sind. Wir sind unzertrennlich. Wir gehen sogar in das Schlafzimmer meiner Mutter und spielen dort mit ihrem Make-up und Schmuck. Aber etwas ist schon komisch. Wir sind nie bei Charlie, nie im Haus ihrer Familie.

Wenn ich dorthin gehe, dann warte ich artig vor der Tür und frage nach Charlie. Sie kommt dann heraus - und wir gehen wieder in unser Haus. Eines Tages, als ich mal wieder vor ihrer Tür warte, kommt ihr Bruder Pierre an. "Sag Charlie doch bitte, dass ich hier bin!" Das tut er auch - und zwar mit diesen Worten: "Charlie! Deine Kaffern-Freundin wartet draußen."

Im südlichen Afrika ist das Wort Kaffer gleichbedeutend mit Nigger. Ich höre, wie Charlies Mutter sagt: "Pierre, dafür entschuldigst du dich jetzt aber bei ihr. Sie hat dich hören können, du warst so laut."

Charlie rennt vor ihm zur Tür und sagt: "Pierre kommt, um sich bei dir zu entschuldigen. Sag ihm einfach, dass alles okay ist!" Ich frage Charlie, wofür Pierre sich entschuldigen möchte. Sie sagt es mir nicht. Ich gehe. Mein zwölfjähriges Ich erkennt, dass Charlie keine beste Freundin ist.

Mit 19 bin ich dann in Los Angeles. Mein Flug von London kommt spät an, ich verpasse den Anschluss nach Hawaii, wo ich aufs College gehe. Ich muss also in der Stadt übernachten. Ich merke schnell, dass ich hier wie eine Fremde betrachtet werde. Ich checke in meiner Unterkunft ein, das Restaurant dort ist bereits geschlossen. Es gibt eine Pizzeria auf der anderen Straßenseite. Dahin gehe ich und stelle dort aber fest, dass ich nicht genug Geld dabeihabe. Also will ich zurück ins Hotel und mehr Geld holen. Als ich die Pizzeria verlasse, faucht mir jemand hinterher. Ich gehe schneller. Dies ist mein erster Tag in Amerika. Werde ich gerade ausgeraubt? "Hey", schreit die Person erneut.

Der Polizist schaut mich an, als ob ich völlig geisteskrank wäre. "Oh? Eine ganz Schlaue!"

Ich gehe noch schneller. Ein Mann packt mich an der Schulter. Ein Polizist. Ich bin zuerst erleichtert. Oh, gut! Ein Polizist. Doch meine Erleichterung ist nur von kurzer Dauer. Er fragt, ob ich Drogen dabeihabe. Ich sage Nein. Er durchsucht meine Taschen, findet meinen Pass und das Geld. "Verschwinde!", sagt er. "Ich möchte dich hier nicht wiedersehen." "Sie werden mich aber gleich hier wiedersehen", antworte ich. "Denn ich habe noch nichts gegessen, und wenn ich mein Geld geholt habe, komme ich wieder." Er schaut mich an, als ob ich völlig geisteskrank wäre. "Oh? Eine ganz Schlaue!" Er legt mir Handschellen an, und trotz der Einwände seines Partners setzt er mich in einen Streifenwagen. Wir fahren zur Polizeistation. Dort werde ich wieder durchsucht. Sie schauen mir sogar in den Hintern. Ich bin neunzehn. Ich bin noch nie im Leben so gedemütigt worden.

Im nächsten Monat werde ich 44. Wenn ich jede Demütigung aufschreiben müsste, der ich seitdem auf den verschiedenen Kontinenten wegen der Farbe meiner Haut ausgesetzt war ... Wenn ich eine willkürliche Auswahl jener Flughäfen im Schengen-Raum treffen müsste, obwohl ich längst ein strenges Visumverfahren durchlaufen habe ... Wenn. Ich müsste viele Bücher darüber schreiben.

Doch auch das ist wenig im Vergleich zu dem, was Schwarze in den USA, in Lateinamerika (insbesondere Brasilien) und in Europa erleben müssen. Sie müssen sich ständig kleinmachen, um nicht wie eine Bedrohung zu wirken. Es ist nicht o.k. Das ist die Erkenntnis der letzten Woche.

Die südafrikanische Schriftstellerin und Kuratorin Zukiswa Wanner, Jahrgang 1976, hat im Lockdown ein Online-Literaturfestival mitbegründet. Sie lebt in Nairobi. Aus dem Englischen von Bernd Graff.

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SZ vom 09.06.2020/tmh
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