In der vierten Woche des Lockdown in Indien zeigt sich seine Wirkung. Es sind keine Leute mehr zu sehen auf den Straßen meines Viertels in Kalkutta. Die nach draußen gehen, tragen Masken und halten Distanz. Auch die Polizei ist aktiv gewesen und vollstreckt den Lockdown. Tempel oder Moscheen sind geschlossen. Nahrungsmittel und essenzielle Waren sind zu bekommen. Einige Märkte haben zu begrenzten Zeiten offen und werden spärlich besucht. Eine Zeit lang schienen Märkte in manchen Vierteln den Lockdown nicht bemerkt zu haben, aber nachdem die Polizei eingegriffen hat, liefen die Dinge vernünftiger.
Mich hat, dank der Warnungen meines Sohnes und dann meiner Schwester vor ein paar Tagen, zum ersten Mal die Angst gepackt. Man muss sehr, sehr vorsichtig sein. Umso mehr, da ich auch für die Angestellten meiner Fabrik für Medizintechnik verantwortlich bin. Die Balance zu halten zwischen Vorsicht und dem unverzichtbaren Betrieb der Fabrik, ist die große Herausforderung und Verantwortung, derer ich mir in den kommenden Tagen bewusst sein muss.
Wenn man sich in Indien umsieht und die Situation, in die sich die Menschen gestellt sehen, sind es die Wanderarbeiter in verschiedenen Landesteilen, über 100 Millionen an der Zahl, die auf Baustellen, in Fabriken und Werkstätten arbeiten, die die größte Not leiden. Sie haben keine Wohnung, kein Geld, kein Essen. Manche haben beschlossen, zu Fuß nach Hause zu laufen - Hunderte Kilometer weit - und es gab Berichte über Menschen, die unterwegs gestorben sind. An einigen Orten stellt der Staat denen, die in Lagern stecken bleiben, wenige Nahrungsmittel bereit, während NGO und Freiwillige tun, was sie können, um zu helfen. In Surat in Westindien protestierten Hunderte Arbeiter, weil sie eine Ausweitung des Lockdown fürchteten und sahen sich den Schlagstöcken der Polizei gegenüber. In Mumbai brachte ein Fernsehsender falsche Nachrichten über einen Sonderzug, der Arbeiter in ihre Heimatregionen bringen würde, worauf sich Tausende am Abend am Bahnhof versammelten und den Zorn der Polizei hervorriefen.
Die Lage der Wanderarbeiter gibt einen Vorgeschmack darauf, was vielen Menschen bevorsteht
Die Bundesregierung hatte den Lockdown plötzlich verkündet, ohne Pläne oder Unterstützung bereit zu haben. Das wird weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen haben. Die Zwangslage der Wanderarbeiter gibt einen Vorgeschmack darauf, was vielen Menschen bevorsteht. Schon jetzt kam es zu etwas, das als "Blutbad" in den Printmedien beschrieben wurde, weil Journalisten ihre Jobs verloren haben. Die Ökonomen und Nobelpreisträger Amartya Sen und Abhijit Banerjee sowie der frühere Leiter der indischen Notenbank Raghuram Rajan haben Indiens Regierung gewarnt: "An der Hilfe für die Bedürftigen zu knausern, bedeutet auf jeden Fall, die Orientierung zu verlieren."
Die einzelnen Staaten Indiens sind dem Kampf für sich selbst überlassen worden. Weil es ihnen an Ressourcen fehlt, stehen sie vor gewaltigen Herausforderungen, wenn sie angemessen reagieren wollen. Allerdings hat der kleine Bundesstaat Kerala im Süden Indiens allgemein Bewunderung hervorgerufen für seine Reaktion. Ein Artikel in der MIT Technology Review titelte: "Was die Welt im Kampf gegen Covid-19 von Kerala lernen kann", und K. K. Shailaja, die Gesundheitsministerin des Bundeslandes, bekam von den Medien den Spitznamen "Coronavirus-Töterin".
Für mich ist das größte Thema in Indien in Zeiten von Covid-19 aber der Ausbruch von Islamophobie und die Verbreitung von Hass. Eine Versammlung der Tablighi Jamaat, einer muslimischen Religionsgemeinschaft, die vor dem Lockdown in Delhi stattfand, lieferte einen geeigneten Vorwand. Die aus fundamentalistischen Hindus bestehende Regierung in Indien und ihre Schoßhündchen unter den Medien sprangen schnell auf und beschuldigten diese Organisation und Muslime im Allgemeinen, das Virus verbreitet zu haben. Manche unterstellten sogar, dies sei absichtlich als terroristischer Akt geschehen. In den letzten zwei Wochen hat Covid-19 den faschistischen Kräften der Hindus eine große Gelegenheit gegeben, einen Blitzkrieg des Hasses am Boden und in den Medien zu lancieren. Sie finden bereitwillige und begierige Abnehmer für ihre Botschaft. Dieses Virus des Hasses ist weit tödlicher als das Coronavirus.
V. Ramaswamy , Jahrgang 1960, ist Lehrer, Autor, Übersetzer, Sozialplaner und Bürgeraktivist.
Aus dem Englischen von Marie Schmidt.