Süddeutsche Zeitung

Serie "Welt im Fieber": Ägypten:Unser Dank gilt dem Virus

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Die Krise kommt der ägyptischen Regierung ganz gelegen, denn plötzlich gibt es für alles, was geplant, aber nicht vollendet wird, einen Grund - Corona.

Gastbeitrag von Khaled al-Khamissi

In Ägypten sind viele Menschen der Überzeugung, dass ihr Leben in der gesamten Geschichte keiner Regierung besonders viel bedeutet hat. Und viele Ägypter, so scheint es, haben sich das zu eigen gemacht. Ich weiß nicht, wie oft ich die Klage gehört habe: Unsere Bevölkerung ist einfach zu groß geworden für das schmale, fruchtbare Niltal. Wenn doch nur die Hälfte des Volkes sterben würde! Meist fügen die Lamentierer noch hinzu, früher sei das mit schöner Regelmäßigkeit während der Trockenzeit des Nils geschehen. Oft währte die Dürre sieben Jahre lang. In dieser Zeit grassierten Seuchen, die zusammen mit Hungersnöten viele Ägypter das Leben kosteten.

Am gründlichsten hat sich wohl der Historiker al-Maqrisi im 14. und 15. Jahrhundert diesem Thema gewidmet. In seinem Werk "Die Errettung der Nation durch die Aufdeckung der Not" beschreibt er nicht weniger als sechsundzwanzig Hungersnöte. In meinem Buch "Im Taxi" habe ich einen Taxifahrer mit dem Satz zitiert: "Menschen sind in Ägypten einfach Staub in einer gesprungenen Tasse. Die Tasse kann leicht zerbrechen, dann weht der Wind den Staub fort. Den Staub kann man nicht wieder zusammenfegen, und eigentlich ist das ja auch nicht nötig, schließlich ist es nur ein bisschen Staub."

Die Zentralregierung hat sich immer nur für das große Ganze interessiert

1987 führte ich für die ägyptische Zeitung Al-Ahram in Paris Interviews mit mittellosen ägyptischen Arbeitern, die ohne Aufenthaltsgenehmigung und Papieren in Frankreich lebten. Wenn das Gespräch auf das ägyptische Konsulat kam, sagten sie, das Konsulat befinde sich auf der anderen Seite ihres Lebensflusses und keine Brücke führe hinüber.

Dieses tief verwurzelte Gefühl zu ändern, dürfte schwer fallen dieser Tage. Ebenso schwer werden sich die Menschen davon überzeugen lassen, dass ihr Leben den Mächtigen plötzlich lieb und teuer geworden ist. Die Zentralregierung hat sich immer nur für das große Ganze interessiert, für Prominente oder Behörden und Ämter von Einfluss und Bedeutung. Die Lebensumstände der einfachen Leute aber blieben Gott und seiner Güte überlassen.

Das Virus liefert der Regierung den ein oder anderen Vorwand

Deshalb vermuten manche Ägypter, dass diese Seuche der Regierung von Nutzen ist oder noch sein wird. Ich sehe das anders, denn allein der Gedanke daran macht mir Angst, und ein Sprichwort sagt: "Die Furcht der Herr des Charakters." Aber es ist eine verbreitete Meinung. Reden wir also über den möglichen Nutzen.

Da wäre etwa das Große Ägyptische Museum. Nur drei Kilometer von den Pyramiden entfernt erstreckt es sich auf einer Fläche von 50 Hektar und gilt schon jetzt als weltweit größter Ausstellungsbau für archäologische Exponate. Die Idee eines neuen Museums für die ägyptischen Altertümer stammt aus dem Jahre 1990. Die Projektplanung war 2002 abgeschlossen. Im Juli 2008 las ich, mit der Eröffnung des Großen Ägyptischen Museums sei 2011 zu rechnen. Danach wurde offiziell erklärt, die Eröffnung erfolge im Juli 2015. Doch nichts geschah. Schließlich hieß es in endgültigen Verlautbarung, das Museum werde im laufenden Jahr 2020 eröffnet, da das Projekt zu 95 Prozent fertig gestellt sei. Dann aber kam die Corona-Epidemie und lieferte der Regierung eine stichhaltige Begründung, um die Eröffnung abermals zu verschieben, voraussichtlich auf 2021. Unser Dank gilt dem Virus.

Zwar ist Kairo die Hauptstadt, doch steht dieser Name für ein ganzes Konglomerat aus Hauptstädten und Verwaltungsmetropolen, die die Herrscher und Präsidenten im Laufe der Jahrhunderte haben errichten lassen. Heute sind sie Stadtteile und Bezirke der Megalopolis. Im 19. Jahrhundert etwa gründete Muhammad Ali Pascha das Viertel Schubra, Abbas Hilmi I. schuf den Stadtteil Abbassija und Ismail Pascha das neue Stadtzentrum nach Pariser Vorbild. Im 20. Jahrhundert ließ Präsident Nasser mit Nasr City gleich den flächengrößten Bezirk der Stadt aus dem Boden stampfen.

Universitäten zeigen sich außerstande, Studenten über das Internet zu versorgen

Der einzige Bauherr der Neuzeit, der sich entschied, weit außerhalb der Stadt zu bauen, war Anwar Sadat, der eine nach ihm benannte Neugründung rund einhundert Kilometer nordwestlich von Kairo veranlasste, aber vor der Fertigstellung des Projekts ermordet wurde.

Dem Vorbild früherer Herrscher und Könige folgend hat unser Präsident beschlossen, eine neue Verwaltungsmetropole von der Größe Singapurs bauen zu lassen, die eine natürliche Erweiterung des östlichen Stadtrands Kairos in Richtung Suez-Kanal sein soll. Offiziell war die Eröffnung dieser neuen "administrativen Hauptstadt" mit dem Umzug von Ministerien und ausländischen Botschaften für dieses Jahr avisiert, ist jetzt aber, bedingt durch die Seuche, auf nächstes Jahr verschoben. Gott sei Dank, denn sie wäre nicht rechtzeitig fertig geworden.

Wäre da noch das neue, nicht minder ambitionierte Nationalmuseum für die ägyptische Zivilisation in Al-Fustat, einem Stadtteil Kairos, der 641 ebenfalls mal als neue Hauptstadt errichtet wurde. Das Museum soll einmal 50 000 Objekten Platz bieten, die die Entwicklung der ägyptischen Hochkultur nachzeichnen und die Leistungen der Ägypter von der frühesten Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart veranschaulichen. Doch auch dieses Museum harrt seit Jahren seiner Eröffnung. Wegen Corona wurde sie nun auf nächstes Jahr verschoben.

Derweil zeigen sich die Universitäten außerstande, die Millionen von Studenten über das Internet zu versorgen, da sie nicht über eine digitale Infrastruktur verfügen. Deshalb können auch keine Online-Prüfungen abgenommen werden. Die verfügbaren Alternativen würden im Interesse der Studenten zu einem allgemeinen Bestehen führen. Glück gehabt, liebe Studenten!

Was das für die Zukunft heißt? Zu erwarten ist, dass unsere Regierung in den kommenden Jahren jede ökonomische, finanzielle, administrative oder politische Pleite auf die Corona-Epidemie schieben wird. Mit dem Coronavirus können Regierungen nur gewinnen.

Khaled al-Khamissi ist ein ägyptischer Schriftsteller. Aus dem Arabischen von Markus Lemke.

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SZ vom 07.05.2020
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