Süddeutsche Zeitung

Serie "Welt im Fieber": Indien:Das Gift in der Gesellschaft kommt zum Vorschein

Lügen, Ressentiments, Unmenschlichkeit: In Indien verstärkt die Corona-Krise die Apartheid und offenbart die Inkompetenz der Regierung.

Gastbeitrag von Venkataraman Ramaswamy

Die Corona-Fälle kommen näher, in meinem persönlichen Umfeld, aber auch sonst; so hat Kalkutta zum Beispiel den Historiker Hari Vasudevan verloren, der im intellektuellen Leben der Stadt eine große Lücke hinterlässt.

In einem Zeitungsbeitrag lese ich, dass Indiens Premierminister Narendra Modi von seiner einstigen Amtsvorgängerin Indira Gandhi eine Lektion "in solidem und fürsorglichem Management" lernen könnte, nämlich in Bezug auf Gandhis Umgang mit zehn Millionen ostpakistanischen Flüchtlingen im Jahr 1971. Stattdessen hat die Not der Wanderarbeiter in Indien während des Shutdowns die Herzlosigkeit, Apathie und Inkompetenz der Regierung offenbart.

Die Lektüre dieses Artikels erinnerte mich auch an den indischen Eisenbahnstreik von 1974. Der 20-tägige Streik von 1,7 Millionen Eisenbahnbeschäftigten ist der längste verzeichnete Arbeitskampf der Welt. Ich war damals im Internat in Dehradun, und der Streik fiel genau auf den Beginn der Sommerferien. Ich bin damals über Delhi und Patna trotzdem nach Hause gekommen, wenn auch auf Umwegen. Das lag am unbedingten Willen der Regierung, den Streik der Eisenbahner mit eiserner Hand zu unterbinden, sodass mehrere Züge verkehrten. Jetzt, wo Wanderarbeiter verzweifelt versuchen, mit einem Zug nach Hause zu kommen, muss ich wieder daran denken: Wenn der indische Staat 1974 dazu in der Lage war, den Bahnverkehr zu ermöglichen, hätte er jetzt nicht dasselbe tun können, diesmal aus Mitgefühl?

Es ist wie in der hinduistischen Mythologie: Alles wird freigelegt, alles kommt zum Vorschein

In meinen Berichten aus Indien habe ich versucht, Leserinnen und Lesern etwas von dem zu vermitteln, was hier geschieht. Dafür habe ich, mehr als sonst, die Nachrichten und die Beiträge in den sozialen Medien verfolgt. Das hat mich an den Rand einer existenziellen Krise gebracht. Ich stoße auf so viel Hass, Käuflichkeit und Leid, dass es kaum zu ertragen ist. Genug, um vor Wut zu platzen oder vor Trauer zu zergehen. Es sind herzzerreißende Bilder, die da mehrheitlich zu sehen sind. Bilder von Männern, Frauen, Kindern und Kleinkindern, die an den Rand gedrängt, ihrer Menschlichkeit beraubt, verachtet und missbraucht werden. Dazu eine Kakofonie von Lügen und Verdrehungen seitens der Machthaber.

In der hinduistischen Mythologie gibt es die Geschichte vom Aufwühlen des Ozeans durch die Devas, die Götter, und die Asuras, die Dämonen, um das Elixier der Unsterblichkeit zu erhalten. Im Zuge dieser ozeanischen Erschütterung wird ein tödliches Gift freigesetzt, das die Kraft hat, die ganze Schöpfung zu vernichten. Shiva, der Gott der Zerstörung, verzehrt das Gift, um die drei Welten zu schützen. Das hinterlässt einen blauen Farbton an seiner Kehle.

Für mich ist der coronavirusbedingte Lockdown wie dieses mythische Aufwühlen des Ozeans. Alles ist freigelegt worden, alles ist zum Vorschein gekommen: Indiens Apartheid auf der Grundlage von Kaste und Klasse; die unmenschlichen Lebensbedingungen der informellen Arbeiter in den Städten; die erschütternde wirtschaftliche Ungleichheit; der schlechte Zustand der öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur; die räuberischen Aktionen der Barone des Neoliberalismus; der Niedergang des Föderalismus, einer fundamentalen Stütze der indischen Republik; die tief verwurzelte antimuslimische Stimmung im Land. Kann Indien nach dem Ende der Pandemie so weitermachen wie bisher? Was wird aus all diesem Gift werden?

V. Ramaswamy ist Lehrer, Autor, Übersetzer, Sozialplaner und Bürgeraktivist. Er lebt in Kalkutta. Aus dem Englischen von Christine Dössel.

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SZ vom 20.05.2020
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