Süddeutsche Zeitung

Welche Sprache braucht Europa?:Englisch für Engel

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Eine europäische Öffentlichkeit kann nur entstehen, wenn sie Englisch spricht. Hier ist das leidenschaftliche Plädoyer für die neue lingua franca des alten Kontinents / Von Thierry Chervel

Das vor fünf Jahren gegründete und inzwischen sehr erfolgreiche Internetportal "Perlentaucher" startet heute einen englischsprachigen Dienst: signandsight.com, gefördert von der Bundeskulturstifung. Durch Presseschau und Übersetzung von Artikeln aus den deutschen Feuilletons ins Englische will Perlentaucher einen Beitrag zur Internationalisierung der europäischen Öffentlichkeit leisten. Thierry Chervel, Mitbegründer und Redakteur von Perlentaucher stellt in seiner programmatischen Begründung die nicht nur rhetorische Frage: Gibt es ein Europa jenseits der Milchquoten?

Un ange passe, sagen die Franzosen, wenn ein Stimmengewirr plötzlich verstummt. Der Engel heißt Europa. Neulich ist er über das Grab von Pierre Bourdieu spaziert.

Es ist nur eine kleine Geschichte, ein bisschen traurig und ein bisschen lächerlich, eigentlich nebensächlich, aber sie sagt etwas über europäische Öffentlichkeit aus. Kurz vor seinem Tod wandte sich der große Soziologe noch einmal einem ihm lieben, zugleich aber verdächtigen Gegenstand zu: sich selbst. Ein Bauernjunge aus dem Béarn, der die kulturellen Klippen der Ecole Normale Supérieure überwunden und es am Ende zum Herrgott der Soziologie gebracht hatte. Diese verdammte eigene Erfolgsgeschichte stand in eklatantem Widerspruch zur Soziologie Bourdieus, die alles aus Herkunft und Habitus erklären wollte. Bourdieu schrieb sein letztes Buch mit dem Titel "Ein soziologischer Selbstversuch" und ist kurz darauf gestorben.

Wenig später brachte der Nouvel Observateur einen Auszug aus dem Text und erzeugte damit eine Sensation. Bourdieu war der letzte Intellektuelle, der in den Pariser Medien noch ein solch fiebriges Getümmel auslösen konnte. Er hasste sie dafür. Selbstverständlich war der Vorabdruck im Nouvel Obs von Bourdieus Erben nicht autorisiert. Denn Bourdieu hatte den französischen Journalisten ein Schnippchen geschlagen -- der Text sollte zunächst auf Deutsch in Deutschland erscheinen, dann erst in Frankreich. Bourdieu wollte keinen hektischen Medienhype für seine heikle Selbstreflexion, er erhoffte sich eine ruhige und ernste Debatte. Aber wollte er, was dann geschah?

Es geschah . . . nichts. Einige Monate nach Bourdieus Tod erschien "Ein soziologischer Selbstversuch" als schmales Bändchen der Edition Suhrkamp. Stille. Die deutschen Medien begriffen gar nicht, dass hier eine Geschichte vorlag, ein anderweitig heiß ersehnter Text, ein Geschenk Bourdieus an die als qualifizierter gedachte deutsche Öffentlichkeit. Monate später brachten die Zeitungen einige Pflichtrezensionen. Auch in Frankreich löste der Band nicht die leiseste Reaktion aus. Was vor Monaten im Auszug noch Skandal erregte, lag nun vor und schien doch nicht zu existieren. Niemand liest in französischen Medien ernstlich deutsch, und sie beschäftigen auch keine Scouts, die die kulturellen Schwingungen in Deutschland registrieren. Erst als der Band in Frankreich erschien, erzeugte er das übliche Tohuwabohu.

Gibt es ein Europa jenseits der Milchquoten?

Offensichtlich nur als Engel, der durch den Raum geht, als Gesprächspause und Leerstelle in der Kommunikation. Der Bourdieu-Effekt trat zuletzt ja häufiger ein. Jürgen Habermas lancierte eine Kerneuropa-Intitiative, aber niemand diskutierte mit. Wer kannte außerhalb der Niederlande Theo van Gogh, bevor er ermordet wurde? Und als in Paris im August letzten Jahres des 60. Jahrestags der Befreiung der Stadt gedacht wurde, sprach niemand darüber, was gleichzeitig in Warschau geschah.

Am größten ist die Ignoranz in den großen Ländern Westeuropas, deren Öffentlichkeiten noch selbstgenügsam in sich ruhen. Man befasst sich mit den nationalen K-Fragen, Late-Night-Comedystars und Fußballskandalen. Die Intellektuellen sitzen wie im Kino: Sie blicken parallel und gebannt, den Nachbarn gar nicht wahrnehmend, in dieselbe Richtung und schnaufen empört über die neuesten Untaten des bösen Buben George W. Bush. Den Phantomschmerz des Utopieverlusts nach dem Fall der Mauer betäubt man mit Globalisierungskritik. Aber gerade die Globalisierungsgegner produzieren jene krankhafte Amerikafixierung, die sie vorgeben zu kritisieren. Sie wollen, dass das Böse einen festen Ort hat und meiden darum den Blick in andere Richtungen, zum Beispiel auch mal nach Tschetschenien. Oder zum Nachbarn. Ist es wirklich die Schuld von Bill Gates und Steven Spielberg, dass die Franzosen immer seltener Deutsch und die Deutschen immer seltener Französisch lernen?

In der französischen Ausgabe von Le Monde diplomatique, dem Zentralorgan der Globalisierungsgegner, erschien jüngst ein Text von Bernard Cassen über eine wünschenswerte internationale Sprachenpolitik. Cassen will dort den Einfluss des Englischen eindämmen, das er als Vektor des Neoliberalismus wahrnimmt: "Die imperiale Macht der USA beruht nicht nur auf materiellen Faktoren . . . Sie verkörpert auch und vor allem die Herrschaft über den Geist, also über die kulturellen Zeichen und den kulturellen Bezugsrahmen -- und dabei ganz besonders über die sprachlichen Zeichen."

Englisch ist der Dollar des Diskurses! Europa kommt in Cassens Vision allenfalls als eine Brüsseler Institution vor, die droht, unter dem Einfluss des Englischen einzuknicken. Die europäische Öffentlichkeit zerfällt ihm in seinem Antidiskurs wie Staub in den Händen, sie interessiert ihn gar nicht. Sein Traum sind vor allem die romanischen Sprachen, die er als "eine einzige Sprache" betrachten möchte, um ein wuchtiges Gegengewicht zur verhassten Sprache des Kapitalismus zu schaffen. Der Fixierung auf Amerika erliegen gerade seine Feinde.

Durch das Internet wurde der Einfluss des Englischen in der Tat vergrößert. Zwar ermöglicht das Netz eine extreme Spezialisierung der Öffentlichkeiten -- hier findet sogar der Kannibale willige Nahrung --, zugleich aber eröffnet das Netz alle seine Möglichkeiten nur, wenn gewisse Standards der Kommunikation eingehalten werden. Zu diesen Standards gehören Programmiersprachen wie Html oder Linux, aber dummerweise weithin auch die englische Sprache. Standards wie MP3 oder das World Wide Web wurden in Europa erfunden, nicht aber Amazon, Google, Ebay und Yahoo. Diese Dienste haben das Leben jedes Einzelnen, der lesen und schreiben und einen Computer bedienen kann, verändert. Sie strukturieren auch die Öffentlichkeiten neu. Es ist ein Rätsel, warum keine dieser ebenso großartigen wie problematischen Ideen in Europa entstanden ist.

Auch die englischsprachigen Medien selbst haben durch das Internet ein höheres Gewicht erhalten. Die New York Times pflegt einen der besten Internetauftritte internationaler Qualitätszeitungen. Wer im Netz nach dem 11. September Informationen über Afghanistan oder den islamischen Terrorismus suchte, war besser dran, wenn er englisch sprach. Auf deutsch oder französisch war kaum etwas zu finden. Es waren keineswegs nur amerikanische Medien, die diese Informationen lieferten, sondern ebenso sehr spezialisierte Universitätsinstitute, die Internetadressen von Think Tanks oder afghanischer Exilvereine. Selbst Al Dschasira wird demnächst auf Englisch senden.

Dennoch droht eine doppelte Provinzialisierung. Denn einerseits besteht eine Tendenz größerer nicht englischsprachiger Öffentlichkeiten -- also etwa Frankreichs und Deutschlands -- zur Selbstgenügsamkeit. Und andererseits erinnere man sich an die Liebe des amerikanischen Kinos zu Paris bis in die fünfziger Jahre. Die Blickrichtung war einmal umgekehrt. Europa hatte etwas zu sagen, und Amerika schien es hören zu wollen. Heute droht auch eine Provinzialisierung der englischsprachigen Öffentlichkeiten, wenn Europa nur eine Leerstelle in der Kommunikation bleibt.

Es ist an der Zeit sich aus der Blickstarre zu lösen und auf die eigenen Stärken zu besinnen. Hat Deutschland nicht in den Augen vieler internationaler Kenner die besten Feuilletons der Welt? Auch wenn die Feuilletonredakteure nicht selten dem Missverständnis erliegen, ihre eigenen Artikel für das eigentlich Wichtige zu halten, auch wenn Recherche oder das Erzählen von Geschichten in deutschen Feuilletons eher als inopportun gelten: Sie reflektieren eine einzigartige Kulturlandschaft mit erstklassigen Opernhäusern und Museen in jeder mittleren Stadt, und sie sind ein einzigartiger Debattenraum. Hier finden nicht nur kulturelle, sondern auch politische und gesellschaftliche Debatten statt.

Von hier ging der Historikerstreit aus, der das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte neu definierte. Hier schreiben Günter Grass über das Copyright oder Andrzej Stasiuk über die Ukraine. Gerade die relative Offenheit zu Osteuropa ist eine ungeheure Stärke. Hier ist Deutschland deutlich weniger provinziell als Westeuropa und die englischsprachigen Länder. Hätte Imre Kertesz den Nobelpreis gewonnen, wenn er nicht in Deutschland solche Erfolge gefeiert hätte?

Jenseits der Grenzen ist darüber wenig bekannt, weil das Deutsche allgemein als eine Art Altgriechisch der Gegenwart gilt und wenig praktiziert wird. Wäre es nicht an der Zeit, einiges davon ins Englische zu übersetzen? Für Europa, und natürlich für China, Russland, Indien, Burkina Faso und die USA.

Die Öffentlichkeit internationalisiert sich. Le Monde diplomatique macht es mit seinen vielen Ablegern vor oder auch Lettre International, die in vielen europäischen Städten erscheint. Eurozine präsentiert im Internet englische, deutsche und französische Übersetzungen von europäischen Kulturzeitschriften aus allen Ländern. Und signandsight.com wird Artikel aus deutschsprachigen Feuilletons auf Englisch präsentieren: Regionale Differenz braucht das Idiom der Globalisierung, um sich zu artikulieren.

Un ange passe: Let's talk European!

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SZ vom 1.3.2005
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