Weißenhofsiedlung wird Weltkulturerbe:Ein Raumsparwunder, wie es heute wieder gefragt wäre

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Dachterrassen für alle: 1927 entwarf der Architekt Le Corbusier in Stuttgart zwei richtungsweisende Wohnhäuser, die jetzt Weltkulturerbe werden. Damals galten sie als unvermietbar.

Von Gerhard Matzig

Es ist eines der wirkmächtigsten und schönsten Fotos der Moderne: Vor einem weißen und feingliedrig-eleganten Gebäude steht ein dunkles Auto, ein Mercedes. Daran, einen Fuß lässig auf das Trittbrett gestellt, lehnt eine mondän gekleidete junge Frau. Mit ihrem Kurzhaarschnitt sieht sie so lebensbejahend aus, als wolle sie statt zum Einkaufen lieber in die Zukunft aufbrechen.

Das Foto - es stammt nicht aus der Baudokumentationsabteilung, sondern von der Werbeabteilung der Firma Daimler und aus dem Jahr 1927 - bringt die Moderne auf den Punkt. Sie zielt auf eine fortschrittliche Gesellschaft, auf selbstbewusste Frauen, die Autos fahren (unerhört zu Beginn des 20. Jahrhunderts), auf Menschen, die mobil sind - und deren Immobilien aussehen wie schnittige Dampfer, die ebenfalls gleich ablegen wollen. Von hier, von diesem Foto aus, nahm die Moderne nicht nur als Bau-, sondern mehr noch als Lebensform und Geisteshaltung Fahrt auf.

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Am Samstag wurde dieses und ein zweites 1927 von Le Corbusier und Pierre Jeanneret gebautes Wohngebäude in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt - gemeinsam mit 15 weiteren Bauten des französisch-schweizerischen Architekten in sieben Ländern. Dazu gehören das Regierungsgebäude im indischen Chandigarh und das Nationalmuseum für westliche Kunst in Tokio. Unter den anderen neuen Kulturerbe-Einträgen war das Gebäudeensemble von Oscar Niemeyer im brasilianischen Pampulha. Ursprünglich hatte die Entscheidung schon am Samstag fallen sollen. Das Welterbekomitee, das in Istanbul tagte, hatte seine Sitzung aber wegen des Putschversuchs in der Türkei unterbrochen.

Tagsüber verschwand das Bett im Schrank. Die Idee stammte von den Nachtzügen

Den Antrag dafür, die 17 Bauten von Le Corbusier (1887 bis 1965) in die Weltkulturerbeliste aufzunehmen, hatten Frankreich, Argentinien, Belgien, Japan, die Schweiz, Deutschland und Indien gemeinsam eingereicht. Zuvor waren sie schon zweimal abgewiesen worden. Die universale Bedeutung Corbusiers sei noch nicht erwiesen, hatte es damals geheißen.

Die Weißenhofsiedlung, auch Werkbundsiedlung genannt, wurde vom Deutschen Werkbund unter der Leitung von Ludwig Mies van der Rohe konzipiert. Beteiligt waren wichtige Vertreter des Bauhaus und der De-Stijl-Bewegung. Es war eine Art gebaute Ausstellung mit begehbaren, oft auch käuflichen oder mietbaren Exponaten. Titel: "Die Wohnung". Gedacht war das Ganze als kühnes Experiment. Es wurden neue Baumaterialien erprobt, man versuchte sich an modernen Konstruktionstechnologien. Experimentiert wurde auch mit neuen Wohnformen.

Auch das auf fast zierlichen Stützen ruhende, schmal sich in die Länge ziehende Doppelhaus ist als Labor des Lebens zu verstehen. Und als Labor der Baupraxis, denn Corbusier hatte erst viel zu spät und unter zahlreichen Verwünschungen von Mies van der Rohe seine Pläne eingereicht. Um die Bauaufsicht kümmerte er sich zwischen vielen anderen Terminen kaum.

Eigentlich muss man also auch den Architekten Alfred Roth würdigen, der den Bau beaufsichtigte und teils ohne Detailplanung zu realisieren hatte. Der "Künstlerarchitekt", also jemand, der ein Genie ist, sich aber nicht um Kosten und Termine kümmert, ist ja durchaus auch eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, an der Le Corbusier maßgeblich beteiligt war. Noch heute haben Architekten Mühe damit, dieses Image der Baukunst zu revidieren.

Das Haus stand lange leer, es galt als "unvermietbar"

Von den ursprünglich 33 Gebäuden der Weißenhofsiedlung stehen heute nur noch elf. Dabei ist Le Corbusiers Doppelhaus heute relevanter denn je. Es ist ein Raumsparwunder, wie es in Zeiten von Wohnungsnot und Nachverdichtung wieder gefragt wäre. In den Wohnungen konnte man die Betten tagsüber in einer Art Bettenschrank verschwinden lassen. Corbusier hatte sich dazu von den Nachtzügen inspirieren lassen.

Auch das flexible, anpassungsfähige und modular veränderbare Wohnen, wie es heute en vogue ist, wurde in Stuttgart erstmals erprobt. Leider war Corbusier seiner Zeit zu weit voraus. Jahrelang stand das Haus leer, es galt als "unvermietbar". Das Wohnen darin stellten sich die Besucher als allzu gewöhnungsbedürftig vor.

Hinter der Schaufassade mit durchlaufendem Fensterband, typisch für Corbusier in horizontaler Proportionierung, lauern enge Flure und kleine Zimmer auf die Bewohner. Aber nach außen macht sich das Haus groß. Das liegt am tiefen Einschnitt im Erdgeschoss und an der markanten Dachrahmung. Auch die Dachterrasse dahinter war eine Innovation. Zuvor besaßen nur Schlösser begehbare Dächer - jetzt sollten auch Wohnungen für die Mittel- und Unterschicht damit ausgestattet werden.

Das Doppelhaus, auch bautypologisch eine Neuerung, wirkt auf diese Weise glamourös und extravagant, während hinter der Fassade zwar ein Raum-Experiment zu bestaunen, aber auch eine gewisse Enge zu erdulden ist. Doch das gilt auch für andere Bauten der Siedlung, etwa für die Reihenhäuser von Mart Stam oder für Josef Franks Doppelwohnhaus.

Le Corbusiers zweites Stuttgarter Werkbund-Haus, Haus Citrohan am Bruckmannweg, ist dagegen etwas konventioneller entworfen. Es wurde auch längst nicht so bekannt wie das Doppelhaus an der Rathenaustraße. Was allerdings auch an der Dame mit Hut und Auto lag.

Auch die Nationalsozialisten mochten die Weißenhofsiedlung übrigens nicht. Es kursierten Postkarten, die die weißen Flachdachhäuser der Moderne mit Kamelen und Dattelpalmen als Orientspinnerei karikierten. Die Entscheidung der Unesco bedeutet also auch insofern eine vollständige Rehabilitation.

© SZ vom 18.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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