Ein Monsterfilm, über ein Monsterkind. Aufgewachsen im Schoße einer ganz normalen amerikanischen Familie, in einer ganz alltäglichen kleinen Stadt. Die Geburt des Sohns ist schrecklich, die Schreie der Mutter sind zusätzlich verzerrt durch die grotesken Spiegelungen in der bauchigen Krankenhauslampe.
Tilda Swinton als Mutter und John C. Reilly als Vater, das ist eine monströse Familie. Sein Knuddelcharme und ihre strenge Kantigkeit. Muttersein, das ist eine Rolle, das sieht man an Tildas Bemühungen, die gelernt sein will. Das macht sie verletzlich und schikanierbar, dem Terror der anderen ausgesetzt.
Kevin treibt böse Spiele mit ihr, es ist, als würde er mit der Mutter experimentieren. Man sieht, wie er genüsslich vor ihren Augen in seine Windeln scheißt. Später werden die Spiele gefährlicher, tödlich. An seiner Schule zieht er dann, als Teenager, einen Amoklauf durch, tötet Schüler und Lehrer.
Viele Absagen hat Lionel Shriver, die Autorin der Vorlage, erhalten, als sie ihren Roman bei Agenten und Verlagen angeboten hatte, damals, kurz nach dem Terror des 11. September. Dann ist innerhalb kurzer Zeit der Roman zum Bestseller geworden.
In dem Trauma des Films ist ein anderes, ein komplementäres Trauma reflektiert, die Geschichte eines Films, den Lynne Ramsay, die unabhängige Filmemacherin aus Glasgow, jahrelang vorbereitet hatte, die Verfilmung von Alice Sebolds "The Lovely Bones", über einen Vater, der den Mörder seiner Tochter sucht.
Ramsay hatte lange am Script gearbeitet, aber als dieser Roman ein Bestseller wurde, wurde die Produktionsfirma unter Druck gesetzt, unter anderem auch von Steven Spielberg, das Ganze größer durchzuziehen. Man verpflichtete Peter Jackson für die Regie.
Psychopathologie des Alltagslebens
Kevin ist dämonisch, aber er geht nach den simplen Regeln der Psychopathologie des Alltagslebens vor, die Familienleben immer auch als inszeniert vorzeigt. Nachdem der Sohn verurteilt und weggesperrt ist, sieht die Mutter sich stellvertretend dem Terror der Stadt und ihrer Familien ausgesetzt, ihrem Leiden, ihrem Hass, ihrer Rachsucht. Tilda Swinton ist der Inbegriff von Erschöpfung, eine perverse Variante der Pietà. Eine der Opfermütter ohrfeigt sie auf offener Straße: "Ich hoffe, Sie verrotten in der Hölle, you fucking bitch."
Die Erleichterung ist unglaublich in Swintons Gesicht, als sie merkt, die zwei Männer in Schwarz an der Tür sind nicht vom Staat, sondern nur zwei Mormonen im Straßendienst. Bressons Notizen zum Kinematographen haben Lynne Ramsay das Handwerk gelehrt. Auch Tilda Swinton ist ein Modell in des Meisters Sinn: "Was sie verlieren an scheinbarem Relief während des Drehens, gewinnen sie an Tiefe und Wahrheit auf der Leinwand. Es sind die flachsten und mattesten Teile, die schließlich das meiste Leben haben."
Immer wieder sieht man Swinton die blutrote Farbe von den Wänden und Fenstern schaben und schleifen, die die Nachbarn ihr draufgeklatscht haben.
We Need to Talk about Kevin, GB 2011 - Regie: Lynne Ramsay. Buch: Lynne Ramsay, Rory Kinnear. Nach dem Roman von Lionel Shriver. Kamera: Seamus McGarvey. Musik: Jonny Greenwood. Mit: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Jasper Newell, Rock Duer, Ashley Gerasimovich, Siobhan Fallon Hogan, Alex Manette. Fugu, 110 Minuten.