Süddeutsche Zeitung

Russische Literatur:Am Anfang war nicht das Wort

Wassili Golowanows tausendseitige Reportage über das Kaspische Meer

Von Burkhard Müller

Handelt es sich jetzt eigentlich um einen See oder ein Meer? Wenn es ein See wäre, dann der größte der Welt. Wenn ein Meer, dann wäre es das einzige, das vom Zusammenhang der Ozeane gänzlich abgeschnitten ist. Kaspisee oder Kaspisches Meer, das ist nicht bloß eine akademische Frage, denn von der Antwort hängt die Grenzziehung ab und damit der Anspruch auf die gewaltigen Lagerstätten an Erdöl und Erdgas. Nicht weniger als fünf Anrainer hat dieses riesige Binnengewässer: im Uhrzeigersinn Aserbaidschan, Russland, Kasachstan, Turkmenistan und Iran. Vier davon gehörten früher zur Sowjetunion, nur der Iran hat von jeher ein Eigenleben geführt.

Anders als das Schwarze Meer, das über die Donau mit uns und über Bosporus und Dardanellen mit dem Mittelmeer in Verbindung steht, hat das Kaspische Meer (wenn man es nun doch einmal so bezeichnen will) bislang nicht viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es galt als eine binnenasiatische Angelegenheit, als entlegenes Wesen der Steppe. Das könnte sich ändern, meint der 1960 in Moskau geborene Schriftsteller, Journalist und Fotograf Wassili Golowanow: "Mein Gefühl sagt mir, dass sich um den Kaspisee ein unglaubliches Spannungsfeld aufbaut und dass, sollte die Welt sich in diesem ,Great Game' um die Ressourcen verlieren, dieser Raum in Stücke fliegt, zum Teufel geht."

Golowanow hat schon früher literarische Reisen in schwer zugängliche Gegenden unternommen, auf die Inseln im sibirischen Polarmeer beispielsweise. Dort hatte er vor allem selbst zur Ruhe finden wollen. Diesmal setzt er sich ein breiteres Ziel: nämlich die Augen zu öffnen für eine wenig bekannte Region, die zwar schon seit Jahrhunderten unter russischem Einfluss steht, aber, anders als die Wildnisse des westlich angrenzenden Kaukasus, über den Puschkin und Tolstoj geschrieben haben, ihren Dichter noch nicht gefunden hat. Und kommt ein Raum denn nicht erst zur Welt, wenn er Dichtung geworden sind?

Gram und Schmerz spielen in diesem Buch eine Schlüsselrolle

"Einladung zu einer Reise" heißt das Buch im Untertitel. Nicht jeder wird geneigt sein, dieser Einladung (außer lesend) Folge zu leisten. Golowanow lässt keinen Zweifel an der katastrophalen Infrastruktur der Gegend, die jede Taxifahrt zu einem Abenteuer macht. Nach Turkmenistan kommt man als Privatreisender überhaupt nicht, in den anderen Ländern hängt alles vom Zufall und von der Freundlichkeit der Leute ab.

Auf die aber trifft Golowanow reichlich; für ihn sind seine Reisen, vier insgesamt, ein höchstpersönliches Projekt, immer stehen Menschen und das Gespräch mit ihnen im Mittelpunkt. Und wenn sein aserbaidschanischer Freund Azer zwischen ihrer ersten und zweiten Begegnung tiefer in den Trunk abrutscht, als selbst die tolerante Landessitte es duldet, dann erfüllt ihn das mit wahrem Gram. Ja, Gram und Schmerz spielen in diesem Buch eine Schlüsselrolle, sein eigener nach zwei gescheiterten Ehen ebenso der Schmerz der Historie, denn in dieser Region hat es so viel vergebliche Anstrengung, so viel Vernichtung, die nirgendwohin führt, gegeben; ganze Armeen sind hier spurlos in der Wüste verschwunden. "Sag einer noch: ,Am Anfang war das Wort.' Am Anfang war die Gewalt (...) Aber wenn ich mich nicht an der Gewalt beteiligen will? Dann greife ich auf das Wort zurück. Ein neuer - womöglich vergeblicher - Versuch."

Ein Versuch jedenfalls, der den Leser packt. Auch zu Einfühlung und Dankbarkeit ist dieser Autor fähig; und er lässt den Leser an seinem Glück teilhaben, dass er und seine langjährige Lebensgefährtin Olga schließlich doch noch heiraten und dass ihre Hochzeitsreise sie - wohin auch sonst? - ans Kaspische Meer führt. Golowanows Überzeugungen sind stark und vielleicht etwas naiv, sie orientieren sich an den Ideen von Tolstoj und Dostojewskij, er sieht in der Moderne vor allem Dekadenz am Werk.

Für einen Westeuropäer ist diese Emotionalität teilweise schwer auszuhalten

Doch das verleiht seinem Blick tiefe Zuneigung für das mühsame Leben der Bergbewohner in Dagestan. Für einen Westeuropäer ist dieser Grad von Emotionalität teilweise schwer auszuhalten, der Stil streift gelegentlich das Blumige (was die Übersetzerinnen Valerie Engler und Eveline Passet mit einer Art von tapferer Treue bewahren). Aber man hat letzten Endes doch mehr davon als von einem Buch wie "Die Grenze" der Norwegerin Erika Fatland, die ebenfalls am Kaspischen Meer unterwegs war (allmählich scheint die Region doch an Interesse zu gewinnen!) und selbst von der alten Tragödie zwischen Armeniern und Aserbaidschanern mit der unbelasteten Heiterkeit der Touristin berichtet.

Golowanow hingegen ist ein Verstrickter, der um Befreiung ringt. Als Russe bewegt er sich in einem Raum, den Russland als sein "nahes Ausland" reklamiert; er kann sich mit fast Allen auf Russisch verständigen, begreift vieles intuitiv, weil die Menschen, auf die er trifft, seine Mitbürger und Landsleute von gestern sind. Doch die alte Schicksals- und Gewaltgemeinschaft macht ihm auch das Herz schwer.

Darum hat der letzte eigentliche Reiseteil des Buchs, in dem es um das iranische Südufer des Kaspischen Meeres geht, so erfrischenden Charakter. Hier ist dem Autor alles neu, hier hilft ihm kein Rückgriff in die ältere oder jüngere Geschichte, und er muss sich einen Dolmetscher nehmen, der ihm schon bald zum engen Freund wird.

Mit Staunen bemerkt er, dass von der angeblichen finsteren Theokratie im Alltagsleben so gut wie nichts zu spüren ist, dass die Leute vielmehr zielstrebig und fröhlich arbeiten (was sie im vom Erdöl korrumpierten Aserbaidschan niemals tun) und dass eine männliche Jugend herangewachsen ist, die, um sich im Leben zurechtzufinden und Spaß zu haben, keinen Alkohol braucht; der Autor bucht es als bedeutende Errungenschaft.

Wenn es so etwas wie fragmentarische Meisterwerke gibt: dies ist eins

In einem Laden schaut er zwei jungen Frauen zu, die gemeinsam einkaufen, die eine mit Kopftuch und weitem traditionellem Gewand, die andere westlich-modisch gekleidet; und statt über die Unterdrückung der Frau im Islam vom Leder zu ziehen, hält er fest, dass die beiden Freundinnen offenbar auf zwei verschiedene erotische Strategien setzen, die der Schaustellung und die des Geheimnisses - und dass dieser Unterschied das gute Einvernehmen zwischen ihnen nicht stört.

Ein Buch, das vom Reisen spricht, kann nie in irgendeinem Sinn komplett sein. Dieses aber wirkt in seinem heterogenen Umfang wie ein zerbrochenes Gebirge. Auf die vier Reiseteile folgen die "Historischen Abstecher", die es mit dem aufrührerischen Kosaken Stenka Rasin, dem rätselhaften Reich der Chasaren, den zwei aberwitzigen russischen Versuchen, vom Kaspischen Meer aus Indien zu erobern, mit Alexander dem Großen, Zarathustra und so manchem anderen zu tun haben. Das war in den Reisebericht nicht zu integrieren und muss darum für sich stehen.

Auch der Anhang will nicht enden, es gibt die "Kurzen Erweiterungen", darauf die Anmerkungen im engeren Sinn (viele von den Übersetzerinnen eingefügt, die wissen, welche russischen Selbstverständlichkeiten einem westlichen Publikum erklärt werden müssen), einen historischen Abriss, ein Glossar usw. Angesichts solcher Ausführlichkeit hätte man dem Band etwas detailliertere Karten gewünscht.

Hingegen muss man, nach einigem Nachdenken, die Entscheidung billigen, das Buch frei von Bildern zu halten, obwohl der Autor die ganze Zeit mit der Kamera unterwegs war. Hier soll nur das Wort zählen, und alle Fotos wären nichts als verwässernde Urlaubsknipserei gewesen. Vielleicht kann man aus dem ausgeschiedenen Material bei Gelegenheit einen Bildband machen - aber hier auf Illustrationen zu verzichten, war richtig. Wenn es so etwas wie fragmentarische Meisterwerke gibt, solche also, die man verehren muss, auch wenn ihrer gezackten Kontur die abschließende Rundung fehlt: dies ist eins.

Wassili Golowanow: Das Buch vom Kaspischen Meer. Einladung zu einer Reise. Aus dem Russischen von Valerie Engler und Eveline Passet. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 1072 S., 48 Euro.

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Quelle:
SZ vom 05.07.2019
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