Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

Literatur-Kolumne: Kann sein, dass die PDF das Buch von morgen ist. Das Bücherregal wird dann zum Nostalgieprodukt, prophezeit der Soziologe Steffen Mau.

Kann sein, dass die PDF das Buch von morgen ist. Das Bücherregal wird dann zum Nostalgieprodukt, prophezeit der Soziologe Steffen Mau.

(Foto: dpa)

In unserer Interviewkolumne fragen wir bekannte Persönlichkeiten nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Steffen Mau.

Von Miryam Schellbach

Steffen Mau, geboren 1968 in Rostock, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität in Berlin. In "Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft" (2019) beschreibt er unter anderem, wie er die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 als junger Soldat der Nationalen Volksarmee erlebt hat. Sein jüngstes Buch, "Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert" (2021) war für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.

SZ: Was lesen Sie gerade?

Steffen Mau: Ganz oben auf meinem Stapel liegt Stephan Malinowskis "Die Hohenzollern und die Nazis", diesjähriger Gewinner des Deutschen Sachbuchpreises. Das Buch ist Sittenporträt und Milieustudie der prominentesten Familie des deutschen Hochadels mit ihren vielfältigen, oft schamlosen Versuchen, an Einfluss zu gewinnen. Da steckt viel soziologische Analyse drin, etwa die Frage, wie anstrengungsloser Wohlstand auf unlautere Weise gemehrt und verteidigt werden kann. Mit welchen dunklen Strategien, sinisteren Allianzen und obskuren Handlangern sind die Privilegien durch die Zeit gebracht worden? Toll recherchiert, sprachlich elegant, fast krimihaft geschrieben.

Was ist das letzte richtig gute Buch, das Sie gelesen haben?

Lea Ypis Buch "Frei" hat mich sehr begeistert, weil es uns die Ambivalenz der Freiheit auf besondere Weise nahebringt. Das Buch handelt von Enver Hoxhas Albanien, dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und endet mit dem Lotterieaufstand 1997. Eine Coming-of-Age-Story und zugleich die Transformationsgeschichte eines ganzen Landes, das zu oft im toten Winkel europäischer Selbstbetrachtung liegt.

Welchen Klassiker haben Sie viel zu spät im Leben gelesen?

John Updikes "Ehepaare" ist ein moderner Klassiker aus dem Jahr 1968, den ich erst kürzlich zur Hand genommen habe. Ein großartiges Psychogramm der gehobenen Mittelschicht Amerikas. Unter der bürgerlichen Oberfläche und in der - wie man heute modisch sagen würde - heteronormativen Zweisamkeit brodelt es gewaltig, Langeweile sucht nach Fluchttüren, Seitensprünge als Exit-Strategie.

Haben Sie schon mal ein Buch geklaut, wenn ja, welches?

Ja, und zwar "Wege ins Paradies", ein Buch über arbeitsgesellschaftliche Utopien des französischen Sozialphilosophen André Gorz. Dieses habe ich mir unbezahlt in der Buchhandlung Kiepert am Ernst-Reuter-Platz besorgt. Da ich dort regelmäßig viel Geld für Bücher ausgegeben habe, hoffe ich auf Absolution, ansonsten gilt die Verjährungsfrist.

Es heißt, die Soziologie sei eine der literarischsten Disziplinen unter den Sozialwissenschaften. Warum eigentlich?

Ob das so ist? Ich weiß es nicht. Es gibt natürlich einige recht gute Autorinnen und Autoren, und ich lese das Soziologiedeutsch ganz gern, aber nicht, wenn es ins Jargonhafte kippt und angestrengt wirkt. Niklas Luhmanns scheinbar absichtslose und sehr präzise Lakonie ist schon schwer zu übertreffen.

Das gepflegte Bücherregal als Inbegriff kulturellen Kapitals, ist das nicht Schnee von gestern?

Womöglich ist die PDF das Buch von morgen. Die Kanzlerin a.D. hat nach eigener Auskunft jüngst das Hörbuch entdeckt; vielleicht auch das ein Zukunftsmodell, welches das Lesen vom Auge ins Ohr bringt. Es soll schon Universitäten geben, die für die Mitarbeitenden keine Bücherregale mehr anschaffen. Bislang gilt ja: Weniger lesen mehr, aber wenn die akademische Klasse aufhört, Bücher zu lesen, wird das Bücherregal wohl zum Nostalgieprodukt.

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