Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

Literatur-Kolumne: "Wo tut's weh? / Trink ein Schlückchen Tee", das erste Gedicht seines Leben bekam der Schriftsteller und Philosoph Senthuran Varatharajah von Mimi der Lesemaus.

"Wo tut's weh? / Trink ein Schlückchen Tee", das erste Gedicht seines Leben bekam der Schriftsteller und Philosoph Senthuran Varatharajah von Mimi der Lesemaus.

(Foto: Clara Neubert)

In unserer Interviewkolumne fragen wir bekannte Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Senthuran Varatharajah.

Von Miryam Schellbach

Senthuran Varatharajah ist Schriftsteller und Philosoph. In seinem zweiten Roman "Rot (Hunger)" collagiert er Originalzitate aus dem Mailverlauf des sogenannten Kannibalen von Rotenburg Armin Meiwes.

SZ: Was lesen Sie gerade?

Senthuran Varatharajah: Wieder, vielleicht zum vierten Mal: Simone Weil, "Schwerkraft und Gnade". Als ich dieses Buch letztes Jahr in der Neuauflage von Matthes & Seitz Berlin gekauft habe, konnte ich es wochenlang nicht öffnen. Ich habe es getragen, irgendwo nah an der Gegend meiner Brust, ich habe es gewendet, gewogen wie einen seltenen Stein. Nur Brocken daraus konnte ich ertragen. Auch jetzt, Monate später, und nachdem ich dieses Buch mehrmals studiert habe, ist es nicht anders. Für die Dunkelheit von Simone Weil sind meine Augen nicht gemacht. In ihrer Dunkelheit reicht mein Augenlicht nicht. Nach jeder Nacht - kommt hier nur eine dichtere Nacht.

Bei welchem Buch haben Sie zuletzt geweint?

Ich kann mich an kein Buch erinnern, bei dem ich jemals geweint hätte. Aber an den letzten Film: "His House", von Remi Weekes. Meine einzige Passion sind Horrorfilme. Und ich dachte, alles bisher gesehen zu haben, aber darauf war ich nicht vorbereitet. Der Film nimmt die bürgerliche Angst aus dem Haunted House Genre - die Angst, dass das eigene Haus nicht uns gehört - und wendet sie, verlegt sie in eine Sozialwohnung in Großbritannien, die zwei Geflüchteten aus dem Südsudan zugewiesen wird. Noch nie nach einem Horrorfilm geweint; und dann so bitterlich.

Welches Buch haben Sie nur zu Dekorationszwecken?

"Die gesammelten Werke" von Hans-Georg Gadamer.

Ein Kinderbuch, aus dem Sie noch heute einen Satz auswendig können?

Ich bin nicht mit Kinderbüchern aufgewachsen. Das erste Gedicht, das ich gelernt habe, stammt aus dem Buch "Mimi, die Lesemaus", meiner Fibel aus der ersten Klasse: "Wo tut's weh? / Trink ein Schlückchen Tee, / iss ein bisschen Haferbrei, / morgen ist es schon vorbei."

Welches Buch erklärt für Sie am besten die ganze Welt?

Ich glaube nicht, dass ein Buch das kann; und auch nicht, dass ein Buch das können sollte. Wenn es aber eines gäbe, das - für mich - der Idee des Buches, auch in seinem biblischen Sinn, vor allem in seinem biblischen Sinn, so nahe wie möglich kam und kommen durfte, und wirklich dort, in dieser ursprünglichen und letztendlichen Nähe auch bleibt, dann muss es Edmond Jabès' "Das Buch der Fragen" sein. Ich habe noch nicht begonnen zu verstehen, wie prinzipiell der Einfluss war, den dieses Buch auf meinen zweiten Roman hatte; wie maßgeblich es seine Liturgie und Dramaturgie bestimmte. An jeder Stelle: die Abdrücke meiner verschwitzten Finger. Einkerbungen von meinem rechten Daumennagel. In dieses Buch darf ich nichts schreiben. Hier: darf ich nichts markieren. Dieses Buch liest mich mit zitternden Händen. Dieses Buch macht die Welt, die uns als eine unverständliche gegeben worden ist, noch unverständlicher - nur Dichtung, und nur Jabès kann das. Und wie sollte es nicht dieses Buch sein, das mit der Frage endet: "Hast du gesehen, wie ein Buch entsteht und vergeht?" In diesem Buch haben wir es.

Vor einigen Jahren haben Sie die Kanzelrede im Berliner Dom gesprochen. Wo liegt der Unterschied zwischen Predigt und Literatur?

Eine Predigt - außer vielleicht die Predigten von Dietrich Bonhoeffer, die aus einer unerwarteten und immer wieder bestürzenden Trauer sprechen - läuft, auf diesem Weg oder einen anderen Umweg, auf Erbauung, auf Aufrichtung im und durch den Glauben hinaus. Das liegt in ihrer Natur. Für die Literatur, die mich berührt, bewegt und gebrochen hat, die mich meint und zu der ich mich auch, schüchtern, zugehörig fühle, gilt jedoch das, was Hegel in seiner Vorrede zur "Phänomenologie des Geistes" sagt: "Die Philosophie aber muss sich hüten, erbaulich sein zu wollen". Eine Offenbarung - und Apokalypse bedeutet nichts anderes - können aber beide sein, Predigt und Literatur; jeweils auf ihre Weise.

Weitere Folgen der Interview-Kolumne lesen Sie hier.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: