Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

Literatur-Kolumne: "Es sollte behördlich verordnete Stunden oder besser noch ganze Tage des Schweigens geben", sagt der Schriftsteller Robert Seethaler.

"Es sollte behördlich verordnete Stunden oder besser noch ganze Tage des Schweigens geben", sagt der Schriftsteller Robert Seethaler.

(Foto: imago stock&people)

In unserer Interviewkolumne fragen wir Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Robert Seethaler.

Von Miryam Schellbach

Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, ist Drehbuchautor und Schriftsteller. Mit den Bestsellern "Der Trafikant" und "Ein ganzes Leben" wurde er bekannt. Zuletzt erschien von ihm "Der letzte Satz", ein Roman über den Komponisten Gustav Mahler.

SZ: Was lesen Sie gerade?

Robert Seethaler: Ich lese "Der Ackermann und der Tod" von Johannes von Saaz. Ein einfacher Bauer klagt den Tod an, weil der ihm sein Frau genommen hat. In dem Streitgespräch durchlebt der Ackermann alle Phasen von Trauer, Wut und Verzweiflung, während der Tod ihm mit grausamen und natürlich unwiderlegbaren Argumenten antwortet. Das Buch ist 600 Jahre alt und schafft es immer noch, mich zu berühren. Das letzte Wort hat übrigens Gott. Aber das habe ich noch vor mir.

Welche Figur aus einem Roman oder überhaupt einem Buch fällt Ihnen immer wieder ein?

Don Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt. Er ist so lang und dünn und versponnen wie ich selbst.

Was ist das letzte richtig gute Buch, das Sie gelesen haben?

Kein Roman, sondern ein Theaterstück: "Reigen" von Arthur Schnitzler. Rhythmus und Melodie der Sprache, der feine Humor, die Bösartigkeit hinter all dem Liebesgesäusel, das alles gefällt mir gut. Klar, dass Arthur Schnitzler und Sigmund Freud auf Distanz voneinander fasziniert waren.

Haben Sie schonmal ein Buch geklaut, wenn ja, welches?

1983 war ich Schlagzeuger bei einer unwahrscheinlich miesen Punkband. Auf einem Festival in der Wiener Arena mit dem Hauptact "Drahdiwaberl" lagen im Backstage-Bereich verstreut zwischen Hunderten von leeren Bierdosen ein paar Jerry-Cotton-Hefte. Die habe ich eingesteckt und mitgenommen. Da es keine Gage gab, war das aber auch okay.

Welchen Klassiker haben Sie viel zu spät im Leben gelesen?

Moby Dick.

Was haben Sie zuletzt aus welchem Buch gelernt, das Sie vorher nicht wussten?

Bis vor Kurzem wusste ich nicht, dass der Pottwal "an beiden Extremitäten seines Körpers je eine furchtbare Waffe besitzt". (Herman Melville, "Moby Dick")

Erste Sätze werden doch auch überschätzt, oder?

Klar. Ein Satz ist immer nur die Absprungrampe für den nächsten. Das gilt sogar - und ganz besonders - für den letzten Satz eines Buches.

Welches Buch erklärt für Sie am besten die ganze Welt?

"Das Schlaue Buch" von Tick, Trick und Track.

In Ihrem jüngsten Roman "Der letzte Satz" porträtieren Sie den Komponisten Gustav Mahler. Welche Musik haben Sie beim Schreiben gehört?

Gar keine. Ich halte Musik nicht aus bei der Arbeit. Das Geschriebene soll eine eigene Harmonie sein. Oder von mir aus eine eigene Disharmonie. Literatur ist Klang, auch wenn er nach außen nicht hörbar ist. Und Klang öffnet Bilder. Also sollte die Umgebung möglichst geräuschfrei sein. Die Stille ist essenziell, sie gibt mir Kraft und Gesundheit. Es sollte viel mehr geschwiegen werden. Es sollte behördlich verordnete Stunden oder besser noch ganze Tage des Schweigens geben. Schreiben heißt für mich: der Stille einen Raum geben und sie ertragen.

Sie sind bekannt dafür, eher kurze Bücher zu schreiben. Kann auf 100 Seiten genauso viel gesagt werden wie auf 600?

Genauso viel und genauso wenig. In einem guten Satz steckt mehr als in einem schlechten Buch. Erzählen heißt erfinden. Keine Geschichte lässt sich endgültig zusammenfassen, weder auf hundert noch auf zehntausend Seiten. Schreiben heißt auswählen: Schlaglichter, Bilder, Momente. Wenn man Glück hat, kann man über eine solche Auswahl etwas vom Leben begreifen.

Weitere Folgen der Interview-Kolumne lesen Sie hier.

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