Süddeutsche Zeitung

Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

In unserer Interviewkolumne fragen wir Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Yael Inokai.

Von Miryam Schellbach

Die Schriftstellerin Yael Inokai wurde 1989 in Basel geboren. Für ihren dritten Roman "Ein simpler Eingriff" (Hanser Berlin) erhielt sie in der vergangenen Woche den Anna Seghers-Preis.

SZ: Was lesen Sie gerade ?

Yael Inokai: Immer wieder "La Bâtarde" von Violette Leduc. Leduc war das uneheliche Kind von einer Bediensteten und dem Sohn des Hauses, davon leitet sich der Titel ihrer Autobiografie ab, denn für die Mutter, für ihr Umfeld und immer auch für sich selbst war Leduc zeitlebens La Bâtarde. Leduc wurde von ihrer Zeitgenossin Simone de Beauvoir gefördert, blieb mit ihrem Arbeiterinnenhintergrund aber immer eine Außenseiterin. Die Autobiografie ist eine Wucht, radikal und poetisch wird vom Leben einer bisexuellen Frau erzählt, die den Feminismus gelebt statt nur erdacht hat.

Was ist das letzte richtig gute Buch, das Sie gelesen haben?

"Nennt mich Esteban" von Lejla Kalamujić. In dem fragmentarischen Roman erzählt eine Frau vom frühen Tod ihrer Mutter, den Großeltern, der Belagerung Sarajevos und dem Grab von Mileva Marić. Trauer und lesbische Liebe werden verhandelt, es gibt Katzen, Geister und einen Zug nach Belgrad, der drei Landesgrenzen passiert, und dabei drei Mal die Lok wechseln muss. Marie-Luise Alpermann hat Kalamujićs bildreiche und ruhige Sprache, mit all ihrem melancholischen Witz, großartig ins Deutsche übertragen.

Welches Buch gehört verboten?

Von Verboten halte ich nicht viel, aber so manche posthum veröffentlichten Tagebücher zeugen vom Wunsch der Autorin, sie mögen nie veröffentlicht werden - ich denke da zum Beispiel an Patricia Highsmith, die etwas in die Richtung schrieb wie: Hands off! Das hätte man doch mal respektieren können.

Was haben Sie zuletzt aus welchem Buch gelernt, das Sie vorher nicht wussten?

Mariella Mehr, eine sehr wichtige politische Schriftstellerin der Schweiz, hat mich vor einigen Jahren mit dem Schicksal jenischer Kinder vertraut gemacht, welche durch die Hilfsorganisation Pro Juventute gewaltsam von ihren Eltern getrennt und in Heime untergebracht worden waren. Mehr war selbst ein solches Kind und hat dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte in ihren literarischen Werken und Essays zum Thema gemacht. Dieses Wissen entdecke ich in der Neuausgabe ihrer Trilogie "Daskind - Brandzauber - Angeklagt" gerade wieder.

Erste Sätze werden doch auch überschätzt, oder?

Ein schöner Aufschlag ist natürlich beeindruckend, aber ein Spiel macht er noch lange nicht. Das gilt auch für erste Seiten.

Warum erzählt die Literatur eigentlich so selten von Krankenschwestern (so wie Sie in Ihrem aktuellen Roman "Ein simpler Eingriff")?

Interessant wäre herauszufinden, wo dieses Fehlen anfängt. Vielleicht gibt es ja Manuskripte, die aber keinen Verlag finden, weil der Pflegeberuf per se als unliterarisch angesehen wird. Diese Ansicht beeinflusst sicher auch Schreibende. Der Pflegeberuf ist immer noch stark mit weiblicher Arbeit assoziiert, die generell wenig Beachtung findet. Nicht zuletzt ist die Pflege etwas, das unangenehme Gefühle in uns hervorruft, weil es an die eigene Verletzlichkeit erinnert; "Die Tochter" von Kim Hye-jin hat das jüngst sehr eindrücklich eingefangen.

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