Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

Lesezeit: 2 min

"Ich möchte nicht Teil einer Menschheit sein, die keine Romane mehr braucht": die Münchner Schriftstellerin Lena Gorelik. (Foto: Christoph Hardt/imago/future images)

In unserer Interviewkolumne fragen wir bekannte Autoren und Autorinnen nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Lena Gorelik.

Von Miryam Schellbach

Lena Gorelik, geboren 1981 in Leningrad, lebt in München und ist Autorin von Romanen und Sachbüchern. Im vergangenen Jahr erschien "Wer wir sind", die Geschichte einer Familie, deren Mitglieder in den Neunzigern als "Kontingentflüchtlingen" aus Russland nach Deutschland kamen.

SZ: Was lesen Sie gerade?

Lena Gorelik: Ich lese - zum zweiten Mal - "Nach dem Gedächtnis" von Maria Stepanova. Zum zweiten Mal: Das sagt es vielleicht auch schon. Das ist ein Buch, das man nicht nur liest, man muss es mitdenken, man darf es vielmehr. Bei jedem Satz muss man verweilen, inhaltlich, sprachlich auch. Ich lese es in kleinen Stücken, konzentriert, es ist das Gegenteil von "verschlingen".

Newsletter abonnieren
:SZ Literatur

Interessante Bücher, dazu Interviews und ausgewählte Debatten-Beiträge aus dem Feuilleton - jeden zweiten Mittwoch in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.

Was war das letzte richtig gute Buch, das Sie gelesen haben?

Das geht schnell: "153 Formen des Nichtseins" von Slata Roschal. Es ist ein Prosadebüt und es hat mich unheimlich beeindruckt. Weil es mit der Form spielt, weil es Listen, E-Mails, Notizen, kleine und größere Szenen, Zitate versammelt, es erzählt in 153 Miniaturen, erzählt frei, unglaublich direkt und verwebt Themen ineinander: Eine junge Frau erzählt von ihrer Migrationserfahrung, von ihrem Werden als Mutter, von ihrem Werden als Frau, von Vorstellungen anderer und wie nebenbei auch von uns als Gesellschaft.

Welchen Klassiker haben Sie viel zu spät im Leben gelesen?

"Ein Zimmer für sich allein" von Virginia Woolf. Und war frappiert, wie viel sie, worüber wir heute noch sprechen, was wir heute noch anprangern, vor bald 100 Jahren bereits benannt hat.

Welches Buch hassen Sie, schätzen aber den Autor?

"Eine Frau" von Péter Esterházy, den ich sehr schätze in seinem Ergründen der Familie, von historischem Kontext, für seinen humorvollen, und gleichzeitig sehr politischen Blick auf die Welt, für seine pointierten Beobachtungen. Aber an diesen 97 männlichen Blicken auf eine, auf die Frau scheitere ich.

Welches Buch erklärt für Sie am besten die ganze Welt?

"Ferien auf Saltkrokan" von Astrid Lindgren. Überhaupt versteht es Lindgren, für mich, die ganze Welt zu greifen. Ich halte mit aller Kraft an ihr fest, an dieser meiner ersten großen, unvergesslichen Bücher-, Schriftstellerinnen-Liebe. In "Ferien auf Saltkrokan", das man hierzulande eher als Film kennt, was ich als Kind aber zum Teil drei- bis viermal direkt hintereinander gelesen habe, vereint sie die ganze Bandbreite der Emotionen: Von Glück zur Trauer ist es nicht weit, auch nicht von Liebe zu Verlust, auch nicht von "früher", von dem, was einen prägt, zu heute. Das Schöne an Lindgrens Büchern ist, dass sie die Welt nicht erklärt. Aber sie packt sie in ein Gefühlsbündel.

Wie viele Romane braucht die Menschheit noch?

Noch sehr, sehr viele. Obwohl alle Geschichten schon erzählt worden sind, alle kleinen und großen Gefühle, Beziehungsgeflechte und -verwicklungen. Aber noch lange nicht aus allen Perspektiven, aus allen Sprachen, noch lange nicht in allen Formen, die jeweils für sich eine neue Welt aufmachen (auch wenn das Bild ein Klischee ist), die eine neue Denk- und Verständniserfahrung möglich machen. Ich möchte nicht Teil einer Menschheit sein, die keine Romane mehr braucht.

Im Februar haben Sie sich mehrfach zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine geäußert. Warum sind Sie jetzt stiller geworden?

Ich habe am Anfang des Krieges der Ohnmacht, dem Schock, der Verzweiflung eine Stimme geben wollen, müssen; seit die ersten Flüchtenden aus der Ukraine kamen, habe ich versucht, so viele wie möglich zu unterstützen, konkrete Hilfe zu leisten - das scheint mir dringlicher, als zu schreiben. Das Schreiben muss einen Sinn haben, muss etwas erklären, beitragen, um eine Perspektive erweitern können; ich bin gerade auf der Suche nach einer solchen Perspektive.

Weitere Folgen der Interview-Kolumne lesen Sie hier .

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusLena Gorelik: "Wer wir sind"
:Darf ich diese Geschichte erzählen?

Schriftstellerin Lena Gorelik hat ihre Familiengeschichte erzählt. Ein Gespräch über Fremdsein und Ankommen, Identität und Scham - und wie es ist, über die eigene Familie zu schreiben.

Interview von Sieglinde Geisel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: