Die Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

Die Literatur-Kolumne: Taucht in die dänische Kultur ein: der Religionssoziologe Hans Joas.

Taucht in die dänische Kultur ein: der Religionssoziologe Hans Joas.

(Foto: imago stock&people/imago stock&people)

In unserer Interviewkolumne fragen wir bekannte Persönlichkeiten nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Hans Joas.

Von Miryam Schellbach

Hans Joas, geboren 1948 in München, interessiert sich dafür, wie die Werte in die Welt kommen. Er lehrt als Ernst-Troeltsch-Professor für Religionssoziologie an der Berliner Humboldt-Uni und ebenso an der University of Chicago. Zuletzt erschien von ihm "Warum Kirche? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft" (Herder 2022). Ende September erhält Hans Joas den Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für "ein hervorragendes wissenschaftliches Lebenswerk".

SZ: Was lesen Sie gerade?

Hans Joas: Viel Dänisches - aus einem persönlichen Grund: Ich will die Kultur verstehen, in der unsere Enkelin Marie aufwächst. Begeistert bin ich vor allem von einem Klassiker des dänischen Romans, nämlich Henrik Pontoppidan. Schon vor Jahren las ich seinen "Hans im Glück" ("Lykke-Per"), von dem auch Ernst Bloch und Georg Lukács meinten, es sei einer der größten Romane ihrer Zeit, und auch sein ähnlich bedeutendes "Totenreich". Jetzt kam "Das gelobte Land" hinzu, ein packendes Buch von Tolstoi'scher Art über ein am Evangelium orientiertes Leben in einer Gesellschaft größter sozialer Ungleichheit. Dazwischen las ich Essays des bedeutenden, im letzten Jahr verstorbenen polnischen Lyrikers Adam Zagajewski ("Poesie für Anfänger"), weil ich als sein langjähriger Kollege in Chicago den Eröffnungsvortrag einer Gedenkveranstaltung in Krakau halten durfte.

Welchen Klassiker haben Sie viel zu spät im Leben gelesen?

Hier würde ich am liebsten kein literarisches Werk nennen, sondern ein literaturwissenschaftliches, nämlich Erich Auerbach, "Mimesis", geschrieben im türkischen Exil um 1940. Das habe ich erst vor drei Jahren gelesen, aber es hat meinen Blick auf alles vorher Gelesene bis hin zu den Evangelien völlig verändert oder erneuert. Ganz nah an den Texten der "abendländischen" Literatur von Homer bis Virginia Woolf und in wunderbarem Deutsch geht es hier um das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit, von erhabenem Stil und drastischem Realismus in der Geschichte des Erzählens.

Welches Buch erklärt für Sie am besten die ganze Welt?

Ohne zu zögern, sage ich hier: Alfred Döblin, "Berlin Alexanderplatz". Es ist so viel mehr, als alle diejenigen meinen, die in ihm ein Dokument sozialrealistischer Literatur aus der Weimarer Republik oder ein bloßes Experiment modernen Erzählens vermuten. Ich finde darin größte existenzielle Tiefe in schnoddrigem Berliner Tonfall. Es spielte sogar eine Rolle für meinen Entschluss als Student, in der Stadt leben zu wollen, in der es handelt. Allerdings ist die Spannung zwischen dem Versuch, die Welt politisch zu verändern oder ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, und der Notwendigkeit, Schläge des Schicksals hinnehmen zu lernen, nicht vom Ort abhängig. Wer dieses Buch ernst nimmt, wird auch nicht mehr, wenn er Ärmere meint, von "einfachen Leuten" sprechen.

Bei welchem Buch haben Sie zuletzt geweint?

Ich weine eigentlich nie beim Lesen und auch sonst erstarre ich eher, sobald es ganz ernst und traurig wird. So ging es mir beim Lesen am stärksten wohl bei Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma", lakonischer Prosa zum Gulag.

Braucht der Mensch Literatur?

Das bringen Sie auf, weil ich etwas zur Frage geschrieben habe, ob der Mensch Religion braucht. Meine Antwort lautete da, dass Menschen natürlich ohne Religion leben können und dies in unserer Zeit und unserer Gegend häufig tun, dass auch sie aber ohne die Erfahrungen nicht auskommen, die manche zum Glauben führen. Ganz ähnlich würde ich zu Ihrer Frage sagen, dass Menschen nicht leben können, ohne das Bedürfnis zu haben, etwas zu erzählen und Erzählungen zur Kenntnis zu nehmen, Erfahrungen auszudrücken in Weisen, die nicht auf rationale Zwecke oder Argumente abzielen, in Rollen zu schlüpfen oder anderen mit Vergnügen zuzusehen, wenn sie dies tun. Für manche aber bietet die Literatur - episch, lyrisch, dramatisch - all das in gesteigerter und konzentrierter Form, und das können sie sich nicht aus ihrem Leben wegdenken.

Moral und Literatur, wie hängen die zusammen?

Die Antwort wird natürlich davon beeinflusst, was wir unter Moral verstehen. Wenn wir sie als Sammlung von Vorschriften denken, an die wir uns zu halten haben und die uns deshalb auch in unserer Freiheit einschränken, dann stellt Literatur, falls sie nicht selbst moralisierend daherkommt, einen phantastischen Freiraum der Selbst- und Welterkundung dar. Wenn wir aber unter Moral etwas viel Weiteres verstehen und auch die Ideale damit meinen, die uns ergreifen und über die gegebene Welt hinausführen, dann kann Literatur diese sinnlich erfahrbar machen. Unser Leben wird dadurch in den Raum gestellt zwischen unseren Idealen und unserer Schwachheit.

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