Die Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

Die Literatur-Kolumne: Literatur darf nie mit Agitation belastet werden, findet der Schriftsteller Christian Baron.

Literatur darf nie mit Agitation belastet werden, findet der Schriftsteller Christian Baron.

(Foto: Hans Scherhaufer; Privatbesitz/Hans Scherhaufer; Privatbesitz)

In unserer Interviewkolumne fragen wir bekannte Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Christian Baron.

Von Miryam Schellbach

Christian Barons literarische Themen sind die soziale Herkunft, die Klassengesellschaft und das Arbeitermilieu. Im mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis ausgezeichneten Roman "Ein Mann seiner Klasse" erzählt er vom Leben des eigenen Vaters. Gerade ist "Schön ist die Nacht", sein zweiter Roman, erschienen.

SZ: Was lesen Sie gerade?

Christian Baron: Ich lese "Der geschenkte Gaul" von Hildegard Knef, weil Michael Maar es in seinem großartigen Buch "Die Schlange im Wolfspelz" empfiehlt. Noch bin ich unsicher, ob mich die an manchen Stellen offensichtliche Schönfärberei mehr ärgert, als mich die lakonische Sprache des Textes begeistert. Aber ich bin auch noch nicht fertig. Als großer Freund der "Naturkunden"-Reihe im Verlag Matthes & Seitz liegen außerdem gerade die Bände über Esel (von Jutta Person) und Tauben (von Karin Schneider) auf meinem Nachttisch, in denen ich nachts vor dem Einschlafen abwechselnd und mit großem Gewinn lese.

Bei welchem Buch haben Sie zuletzt geweint?

Das passiert mir ziemlich oft beim Lesen. Zuletzt bei "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers und "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertész: zwei thematisch verwandte Bücher mit völlig unterschiedlichem literarischen Zugriff. Und beide haben mir den Stecker gezogen.

Welches Buch hätten Sie gern selbst geschrieben?

Alle Romane von Irmgard Keun. Ich bin so begeistert von der Sprache dieser Autorin, dass ich beim Lesen immer schwanke zwischen Faszination und Neid. Sie hat Menschen und Zeiten beschrieben, die zugleich weit weg sind, und denen ich mich trotzdem eigentümlich nah fühle. Ja, so gut wie sie würde ich gern schreiben können.

Haben Sie schon mal ein Buch geklaut, wenn ja, welches?

Bücher hab ich noch nie geklaut. Als Kind fehlte mir das Interesse, später setzte eine bis heute anhaltende Ehrfurcht ein wie bei der Mutter in "Eine Frau" von Annie Ernaux, die sich immer erst die Hände wäscht, ehe sie ein Buch anfasst.

Welche Figur aus einem Roman oder überhaupt einem Buch fällt Ihnen immer wieder ein?

Franz Biberkopf aus "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin. Nicht nur, weil der Roman eines meiner Lebensbücher ist. Dieser Biberkopf ist auch ein Kerl, der es einem schwer macht, Sympathie zu entwickeln. Und trotzdem fiebere ich mit. In seiner Ambivalenz, seiner Orientierungslosigkeit, seinem Pendeln zwischen intuitiver Sehnsucht nach einer menschenfreundlichen Welt und irrationalem Menschenhass nehme ich ihn als erstaunlich zeitlose Figur wahr.

Wenn Sie sich die Existenz eines Buches wünschen dürften, das es noch nicht gibt - was wäre das?

Mich beschäftigen seit einigen Jahren die Themen Tierschutz und Tierrechte. Ich würde gern einen richtig guten Roman aus der Perspektive eines Schweins in der Massentierhaltung lesen - ohne es zu vermenschlichen. Da ist es natürlich schwer, eine Sprache zu finden. Zuletzt hat es T.C. Boyle in "Sprich mit mir" aus der Sicht eines Schimpansen versucht. Das fand ich schon ziemlich gut, aber es war nicht so radikal, wie ich es mir gewünscht hätte.

Welches Buch erklärt für Sie am besten die ganze Welt?

Wenn ich Sachbücher ausklammere, dann habe ich bislang noch kein Buch gelesen, das den Menschen im Kapitalismus besser beschreibt als "Früchte des Zorns" von John Steinbeck. Was man etwas überhöht unter dem Schlagwort "conditio humana" kennt, ist hier ohne zu beschönigen oder zu moralisieren aus der Perspektive "von unten" erzählt, die mir in der Literatur noch immer viel zu selten vorkommt.

Lange Jahre wurde kaum von gesellschaftlichen "Klassen" gesprochen. Wie kommt es, dass das Wort nun eine Renaissance erlebt?

Weil die Einführung von Hartz IV zwar für die Betroffenen nur Nachteile, für den Diskurs aber einen Vorteil mit sich brachte: Die Armut in diesem reichen Land lässt sich seitdem nicht länger unsichtbar machen. Das gilt umso mehr, seit sich die sozialen Folgen der Corona-Pandemie zeigen. Dass der Widerspruch von Kapital und Arbeit bei aller Ausdifferenzierung weiterhin besteht, lässt sich nicht mehr leugnen. Natürlich hat auch das Buch "Rückkehr nach Reims" von Didier Eribon das Thema in Deutschland wieder auf die Tagesordnung gebracht, als es 2016 endlich bei uns erschien.

Literatur und Politik - wie würden Sie dieses Verhältnis in einem Satz beschreiben?

Literatur darf nie mit einem politischen Anspruch oder mit Agitation belastet werden, aber ein literarischer Text kann aus sich selbst heraus politisch wirksam werden.

Weitere Folgen der Interview-Kolumne lesen Sie hier.

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