Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

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Edith Wharton, Emily Brontë, Gustave Flaubert. Sie alle haben über die Einsamkeit geschrieben. Jetzt auch er: der Berliner Autor Daniel Schreiber. (Foto: Christian Werner)

In unserer Interviewkolumne fragen wir Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Daniel Schreiber.

Von Miryam Schellbach

Sein erstes Buch, die Susan-Sontag-Biografie "Geist und Glamour" (2007), schrieb Daniel Schreiber noch in New York City. Seitdem lebt er in Berlin. Sein letztes Buch, "Allein" (2021), ist die autobiografische Erkundung eines Gefühls, das alle kennen.

SZ: Was lesen Sie gerade?

Daniel Schreiber: "Young Mungo", den neuen Roman von Douglas Stuart, ein Buch wie eine irre bewegende Oper. Es handelt von der Jugend eines schwulen Mannes in Glasgow zu Beginn der 1990er-Jahre, von der Spirale homophober Gewalt, die er erfährt, und einer Liebe, die sich zwischen ihm und einem anderen Jugendlichen entwickelt. Und Stuart macht etwas mit der schottischen Färbung des Englischen, das, glaube ich, kaum jemand kann: Man lacht und weint zugleich, oder zumindest kurz nacheinander.

Bei welchem Buch haben Sie - vor "Young Mungo" - zuletzt geweint?

Bei "Regardez-nous danser" von Leïla Slimani, dem zweiten Teil ihrer "Das Land der Anderen"-Trilogie. Schon der erste Teil hat mich so mitgenommen und so begeistert. Und bei dem Ende dieses Teils brach ich in Tränen aus, weil es so versöhnlich ist - aber auf eine ganz realistische, unaufgeregte Weise versöhnlich, in der so viel gelebtes Leben steckt. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Slimani bewundere.

Was ist das letzte richtig gute Buch, das Sie gelesen haben?

Walerjan Pidmohylnyjs "Die Stadt", ein ukrainischer Klassiker, der von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok gerade zum ersten Mal ins Deutsche übertragen wurde. Fast 100 Jahre nach seinem Erscheinen macht dieser große Roman über Kiew einem die Tragik und Grausamkeit des russischen Angriffskrieges auf eine Weise bewusst, wie es kein Zeitungs-, Radio- oder Fernsehbeitrag kann. Er hinterlässt einen völlig sprachlos, und ich bin dem Guggolz-Verlag so dankbar, dass es ihn jetzt auf Deutsch gibt.

Erste Sätze werden doch auch überschätzt, oder?

Vielleicht, aber dann gibt es immer wieder welche, die einen umhauen, zum Beispiel die von Christa Wolf: "Nachdenken, ihr nach - denken." Oder: "Die arge Spur, in der die Zeit von uns wegläuft." Oder "Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt." Und das sind nur drei Beispiele.

Welches Buch fängt am besten das Gefühl des Alleinseins ein?

Das ist schwer zu beantworten, denn viele Romane handeln vom Alleinsein, und wir alle meinen mit diesem Wort verschiedenste Dinge. Aber ein Versuch: Anna Karenina steht den Strukturen einer Gesellschaft allein gegenüber, die sie unglücklich macht, und Lily Bart, die Heldin von "Das Haus der Freude", der Unerbittlichkeit einer um Reichtum zentrierten Welt. Emma Bovary ist allein mit ihrem Begehren nach einem erfüllenderen Leben und Heathcliff aus "Wuthering Heights" allein mit seiner Erinnerung an Catherine und ihren Geistern. Und man möchte sich gar nicht vorstellen, wie allein Bertha in "Jane Eyre" ist, Edward Rochesters in den Dachboden weggesperrte Frau. An den Roman, an den ich bei Ihrer Frage jedoch als Erstes gedacht habe: "Spiel dein Spiel" von Joan Didion - mit fast schon beängstigender Kühle kreist der den Zustand einer Frau ein, die von allen - von der Gesellschaft, ihrer Familie und ihren Freundinnen und Freunden - alleingelassen wird. Eine beeindruckende, harte Lektüre.

Was ist Ihr liebstes Susan-Sontag-Zitat?

"I'm happy, when I dance." Der Satz stammt aus ihren Tagebüchern. Ich weiß gar nicht, warum ich ihn so mag - Sontag hat sehr viele supertolle und superkluge Sätze geschrieben -, aber vielleicht, weil das Wissen guttut, dass es auch in einem oft unglücklichem Leben wie ihrem glückliche Momente gibt.

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