Was ist Heimat?:"Wir hießen Dahergeschleifte, Asylantenschweine, Affen, Neger"

Was ist Heimat?: "Sie sprechen aber gut Deutsch!": Senthuran Varatharajah in seiner Wohnung in Berlin-Schöneberg.

"Sie sprechen aber gut Deutsch!": Senthuran Varatharajah in seiner Wohnung in Berlin-Schöneberg.

(Foto: dpa; Jessy Asmus; photocase; Bearbeitung SZ)

Der Schriftsteller Senthuran Varatharajah ist als Kind aus Sri Lanka geflohen. Hier erzählt er, welche verbalen Anfeindungen er in Deutschland erlebte - und warum er trotzdem sagt: "Deutsch war die Sprache Gottes."

Gastbeitrag von Senthuran Varatharajah

Ich bin ein Schriftsteller ohne Sprache. Aus dieser Sprachlosigkeit schreibe ich. Ich wurde 1984 in Jaffna, im Norden Sri Lankas, im Krieg geboren. 80 000 bis 100 000 Menschen wurden in den 26 Jahren, die er andauerte, getötet. Ich weiß: An meiner Stelle ist ein anderer gestorben. Ich weiß: Ich spreche über mich, als ob ich bereits gestorben wäre. Ich weiß: Das ist der Fall - ein Kasus. Als ich vier Monate alt war, konnte meine Mutter mit meinem älteren Bruder und mir über Colombo, Moskau und Ost-Berlin nach West-Berlin fliehen. Die ersten sieben Jahre wohnten wir in fünf verschiedenen Asylbewerberheimen: in West-Berlin, Frankfurt am Main, Nürnberg, Coburg und in einer bayerischen Kleinstadt, in der ich auch bis zum Studium lebte. Die Grenzen, über die wir gegangen sind, sind auch durch uns gegangen. Das ist meine Fluchtlinie. Das wird meine Fluchtlinie gewesen sein.

Über diese Routen und Abwege der Sätze sind wir gekommen. Diese Linie kann nachvollzogen werden, als eine objektive Bewegung im Raum, die sich über 9717,1 km erstreckt. Sie ist messbar, auch mit dem Maßstab eines Fingers. Als Kind zeichnete ich sie vor dem Schlafengehen auf dem Diercke Weltatlas meines älteren Bruders nach. So sind wir gekommen: in dieses Land und in diese Sprache; in einen anderen Kontinent und in ein anderes, in dieses Alphabet. Das ist der Fall. Ich bin dreisprachig aufgewachsen: Tamil und Englisch - Sri Lanka war 133 Jahre britische Kronkolonie - sprach ich mit meinen Eltern, Deutsch lernte ich später: bei den Zeugen Jehovas und im Kindergarten.

Was ist Heimat?

Jeder Mensch hat eine Heimat. Oder nicht? Oder auch zwei? Eine Artikelreihe untersucht die Ver- und Entwurzelung in bewegten Zeiten. Alle Texte lesen.

Mein Vater, ein Hindu, konvertierte, als wir im Asylbewerberheim Coburg lebten, und auch ich war Jehovas Zeuge, wie sich Zeugen Jehovas selbst nennen, bis ich einen Monat vor meiner Taufe austrat. Eine Linie verbindet nicht nur einen Punkt mit mindestens einem anderen, in gerader, gekrümmter oder gebrochener Form, sie kann auch als eine Durchstreichung verstanden werden: von dem, worüber sie verläuft. So sind wir gekommen. Ich bin ein Schriftsteller ohne Sprache. Ich kann nicht sagen, ob ich zur Sprache kam, ob sie zu mir gekommen ist. Vielleicht ist das die Unsicherheit, die jemand empfindet, dem der Tod vorausging; vielleicht; und vielleicht lässt sich diese Unsicherheit auch auf die erste Schrift zurückführen, die gelesen, immer wieder gelesen wurde, und die heilig war, geschrieben in einer Sprache, die den Eindruck erweckte, selbst heilig zu sein, von woanders zu kommen.

Sie kam auch von woanders. Ein Bruder aus unserer Versammlung brachte mir Lesen und Schreiben bei, im Sommer vor meiner Einschulung. Wir saßen am Esstisch, im letzten Asylbewerberheim, in dem wir wohnten, und mit einem Finger unter diesen Zeilen zeichnete ich die ersten Sätze nach, die ich gelesen habe, einen Vers aus der Neuen Welt Übersetzung der Heiligen Schrift, der Bibel der Zeugen Jehovas, bis meine Augen zu diesem Finger geworden sind; 1. Korinther 13,12. Ich erinnere mich an das Zögern in der Stimme. "Denn jetzt sehen wir mit Hilfe eines metallenen Spiegels in verschwommenen Umrissen, dann aber wird es von Angesicht zu Angesicht sein. Jetzt erkenne ich teilweise, dann aber werde ich genau erkennen, so wie ich genau erkannt worden bin."

Diese Sprache habe ich anders erfahren; anders, als der Verlauf der Zeilen vermuten lässt. Sie kam aus einer anderen Richtung. Tamil und Englisch lernte ich als Sprachen der Kommunikation; sie kamen von einem Körper, der anwesend war, im selben Raum wie ich. Die Linie dieser Sprachen verlief horizontal: von Mund zu Ohr und Mund zu Ohr - von Angesicht zu Angesicht. Sie wurde später durchkreuzt, von einer vertikalen; von einer Sprache, die von oben kam: von Jehova zu mir und von mir zu Jehova. Das habe ich geglaubt. Das war der Fall. In dieser Sprache habe ich anders gesprochen. In dieser Sprache wurde ich anders angesprochen. Ich habe geglaubt, genau zu erkennen, so wie ich auch glaubte, genau erkannt worden zu sein. Deutsch war die Sprache Gottes, weil ich in dieser Sprache Gottes Wort erfahren habe. Deutsch war die Sprache, die in unserer Gemeinde gesprochen wurde, und in der ich auch glaubte, gemeint worden zu sein, von jemandem, der ohne Körper anwesend, da war, in diesem und in jedem anderen Raum auch. Das war der Fall - ein Eingriff von oben. Die vertikale Linie: Zeugen Jehovas glauben, dass Jesus nicht am Kreuz, sondern am Pfahl gestorben ist. Die vertikale Linie: der erste Buchstabe.

Das erste Wort, das ich schreiben konnte, war nicht mein Name, sondern der Name Gottes, auf einem gelben Notizzettel mit einem roten Kugelschreiber der Kreissparkasse. Das J fing am oberen Rand an und endete am unteren. Es entsprach den Maßen des Papiers. Das zweite Wort, das ich schreiben konnte, war der Name seines Sohnes. Und noch immer sehe ich in diesem Buchstaben beides, gleichzeitig, den Namen des Vaters und den Namen des Sohnes; den Körper des Vaters und den Körper des Sohnes: Ich sehe Jehovas Arm, der vom Himmel aus auf die Erde greift, und der sich nimmt, was ihm gehört, und auch den Pfahl sehe ich darin, tief im Boden befestigt, den Leib Christi, das Blut, die Richtung des Bluts; diesen Bund. Das habe ich geglaubt. Von dieser Sprache bin ich ausgegangen. In dieser Sprache schreibe ich.

Sie besitzt immer noch die Erinnerung an diese Intimität, auch wenn sie leerer geworden ist, stiller. Es ist eine andere Stille als die des Gebets. Das ist der Fall - ein Sturz durch einen metallenen Spiegel. Ich bin ein Schriftsteller ohne Sprache. Aus dieser Leere schreibe ich. Das, was ich schreibe, ist nur ein Zeichen der Vernichtung, der wir entkommen sind, so, wie auch wir, unser Körper, unser Sprach- und Schriftkörper, immer ein Zeichen dieser Vernichtung gewesen sein werden. Der Tod ging uns voraus, auch unserer Sprache. Er war der Grund für unsere Ankunft. Auf diesem Grund schreibe ich. Sprachlosigkeit hat im Deutschen zwei Bedeutungen: das Fehlen eines augenblicklichen Zugriffs auf Sprache angesichts eines Ereignisses, das uns die Sprache nimmt, uns die Sprache verschlägt. Wir sagen "ich bin sprachlos", oder "es fehlen mir die Worte". Sprachlosigkeit kann aber auch die Permanenz einer fehlenden Verfügbarkeit bedeuten - die andauernde Abwesenheit einer Sprache.

Wir wurden angestarrt, angeschrien, angespuckt

Ich meine eine andere Abwesenheit; eine andere als diese. Ich meine zwei Formen des Fehlens, das Fehlen einer Selbstverständlichkeit und das Fehlen eines Bekenntnisses. Sprache ist, für mich, das Unselbstverständlichste. Das betrifft alles, was mit ihr zusammenhängt: hören, sprechen, lesen, schreiben. Ich verstehe es nicht. Tamil zu sprechen konnte in Sri Lanka in den Tod führen. Ich stehe in gleicher Entfernung zu jeder Sprache, die ich spreche. Das ist keine Frage der Kenntnis, sondern des Bekenntnisses: Ich kann mich zu keiner Sprache bekennen.

Unser Verhältnis zu einer Sprache hängt auch von dem ab, was wir in ihr erfahren. Ich stehe anders zu dieser Sprache, auch, weil ich anders in dieser Sprache gesehen werde. Es liegt in der Natur der Sache: Wir waren nicht vorgesehen in der Ordnung dieses Landes. Wir fielen auf. Unsere Haut machte uns sichtbar. Das war der Stand der Dinge. Wir hießen Dahergeschleifte, Asylantenschweine, Affen, Neger. Das waren unsere Namen. Das war der Fall. Wir wurden angestarrt, angeschrien, angespuckt. Auch, wenn ich Deutsch als vertikale Sprache lernte, heißt das nicht, dass ich sie nicht auch als eine andere, als eine horizontale erfahren habe. Sie kam auch aus dieser Richtung. Sie folgt auch dem Verlauf der Spucke - von Angesicht zu Angesicht.

Sie kam von einem Körper, der vor mir stand. Das sind keine Ereignisse einer entfernteren Vergangenheit. Wir fallen immer noch auf. Das ist immer noch der Fall. Ich lebe - unterbrochen von längeren Aufenthalten in England, Kanada, Indien, Japan und den USA - seit 33 Jahren in Deutschland. Wenn ich Deutsch spreche, führt das zu Gratulationen (" Sie sprechen aber gut Deutsch"), zu Interventionen ("Darf ich kurz stören? Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?'), und Irritationen ("Ich habe nicht erwartet, dass Sie meine Sprache sprechen"). Dieser Körper und diese Sprache scheinen sich zu widersprechen. Sie scheinen nicht zusammenzugehören.

Wir waren auf einer Autobahn, als ich meinen älteren Bruder fragte, woher wir kommen

Es spielt keine Rolle, wie lange wir hier sind. Es spielt keine Rolle, dass wir hier sind. Wir sind auch nicht hier. Ich denke an Jean-Luc Nancys "Der Eindringling - Das Fremde Herz": "Bleibt er ein Fremder, nachdem er angekommen ist, hört sein Ankommen nicht auf. (...) Er ist weiterhin einer, der ankommt, der sich im Kommen befindet." So sind wir gekommen: als eine Linie, die nicht aufhört. Diese Eingriffe in den Mund betreffen den ganzen Körper. Sie berühren seine physische Präsenz. Wenn jemandem eine Sprache abgesprochen wird, wird dieser Person die Anwesenheit in dieser Sprache, aber auch in dem Land, in dem sie gesprochen wird, genommen, jedes Mal wieder. Sie sprechen. Darf ich stören? Das ist meine Sprache. Auch dieser Vorgang verläuft horizontal: von Mund zu Ohr.

Als mein erster Roman "Vor der Zunahme der Zeichen" im Frühjahr 2016 erschienen ist, wurde ich von Journalistinnen und Journalisten regelmäßig auf Englisch angesprochen. Der Roman erzählt davon, wie Flucht und Asyl Sprache formen; von Sprache und Tod, diesem "Wesensverhältnis", das noch "ungedacht" sei, wie Heidegger sagt. Noch einmal: Der Tod ist die Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit meiner Sprache. Ohne ihn wäre ich nicht nach Deutschland gekommen. Ohne ihn hätte ich nicht Deutsch gelernt. Ohne ihn wären wir nicht hier. Das ist der Gegenstand des Romans: wie die Grenzen, über die wir gegangen sind, auch durch uns gehen, durch Körper und Sprache.

Als ich ein Kind war, sind wir jeden zweiten Samstag mit dem Auto durch Deutschland gefahren, um Verwandte in den Asylbewerberheimen zu besuchen, in denen sie wohnten, in München, Stuttgart, Hannover, Hamburg. Schnee lag hinter den gebogenen Schutzplanken. Wir waren auf einer Autobahn, als ich meinen älteren Bruder fragte, woher wir kommen. Ich wusste es und ich wusste es nicht. Er sagte, wir kämen aus Deutschland. Das sei unsere Heimat. Siehst du es nicht? Das sei der Fall.

Das Wort Heimat gehört nicht zu meinem aktiven Wortschatz. Dieses Wort hat keine Bedeutung für mich. Wenn ich auf Lesungen gefragt werde, ob Sprache - wenigstens sie - eine Heimat sein könne, sage ich das. Dieses Fehlen entspricht der Sprachlosigkeit, von der ich spreche. Ich glaube nicht, dass ich in dieser oder in einer anderen Sprache vorkomme. Ich glaube nicht, dass ich zur Sprache komme. Ich bin nicht hier. Ich bin ein Schriftsteller ohne Sprache. Das ist die Antwort, die ich gebe. Es fehlen immer Worte. Aus diesem Fehlen schreibe ich.

Der Autor studierte Philosophie, evangelische Theologie und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. Im Frühjahr 2016 erschien sein viel beachteter und mehrfach ausgezeichneter Debütroman "Vor der Zunahme der Zeichen" im S. Fischer Verlag. Er lebt in Berlin.

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