Ich bin ein Schriftsteller ohne Sprache. Aus dieser Sprachlosigkeit schreibe ich. Ich wurde 1984 in Jaffna, im Norden Sri Lankas, im Krieg geboren. 80 000 bis 100 000 Menschen wurden in den 26 Jahren, die er andauerte, getötet. Ich weiß: An meiner Stelle ist ein anderer gestorben. Ich weiß: Ich spreche über mich, als ob ich bereits gestorben wäre. Ich weiß: Das ist der Fall - ein Kasus. Als ich vier Monate alt war, konnte meine Mutter mit meinem älteren Bruder und mir über Colombo, Moskau und Ost-Berlin nach West-Berlin fliehen. Die ersten sieben Jahre wohnten wir in fünf verschiedenen Asylbewerberheimen: in West-Berlin, Frankfurt am Main, Nürnberg, Coburg und in einer bayerischen Kleinstadt, in der ich auch bis zum Studium lebte. Die Grenzen, über die wir gegangen sind, sind auch durch uns gegangen. Das ist meine Fluchtlinie. Das wird meine Fluchtlinie gewesen sein.
Über diese Routen und Abwege der Sätze sind wir gekommen. Diese Linie kann nachvollzogen werden, als eine objektive Bewegung im Raum, die sich über 9717,1 km erstreckt. Sie ist messbar, auch mit dem Maßstab eines Fingers. Als Kind zeichnete ich sie vor dem Schlafengehen auf dem Diercke Weltatlas meines älteren Bruders nach. So sind wir gekommen: in dieses Land und in diese Sprache; in einen anderen Kontinent und in ein anderes, in dieses Alphabet. Das ist der Fall. Ich bin dreisprachig aufgewachsen: Tamil und Englisch - Sri Lanka war 133 Jahre britische Kronkolonie - sprach ich mit meinen Eltern, Deutsch lernte ich später: bei den Zeugen Jehovas und im Kindergarten.
Jeder Mensch hat eine Heimat. Oder nicht? Oder auch zwei? Eine Artikelreihe untersucht die Ver- und Entwurzelung in bewegten Zeiten. Alle Texte lesen.
Mein Vater, ein Hindu, konvertierte, als wir im Asylbewerberheim Coburg lebten, und auch ich war Jehovas Zeuge, wie sich Zeugen Jehovas selbst nennen, bis ich einen Monat vor meiner Taufe austrat. Eine Linie verbindet nicht nur einen Punkt mit mindestens einem anderen, in gerader, gekrümmter oder gebrochener Form, sie kann auch als eine Durchstreichung verstanden werden: von dem, worüber sie verläuft. So sind wir gekommen. Ich bin ein Schriftsteller ohne Sprache. Ich kann nicht sagen, ob ich zur Sprache kam, ob sie zu mir gekommen ist. Vielleicht ist das die Unsicherheit, die jemand empfindet, dem der Tod vorausging; vielleicht; und vielleicht lässt sich diese Unsicherheit auch auf die erste Schrift zurückführen, die gelesen, immer wieder gelesen wurde, und die heilig war, geschrieben in einer Sprache, die den Eindruck erweckte, selbst heilig zu sein, von woanders zu kommen.
Sie kam auch von woanders. Ein Bruder aus unserer Versammlung brachte mir Lesen und Schreiben bei, im Sommer vor meiner Einschulung. Wir saßen am Esstisch, im letzten Asylbewerberheim, in dem wir wohnten, und mit einem Finger unter diesen Zeilen zeichnete ich die ersten Sätze nach, die ich gelesen habe, einen Vers aus der Neuen Welt Übersetzung der Heiligen Schrift, der Bibel der Zeugen Jehovas, bis meine Augen zu diesem Finger geworden sind; 1. Korinther 13,12. Ich erinnere mich an das Zögern in der Stimme. "Denn jetzt sehen wir mit Hilfe eines metallenen Spiegels in verschwommenen Umrissen, dann aber wird es von Angesicht zu Angesicht sein. Jetzt erkenne ich teilweise, dann aber werde ich genau erkennen, so wie ich genau erkannt worden bin."
Diese Sprache habe ich anders erfahren; anders, als der Verlauf der Zeilen vermuten lässt. Sie kam aus einer anderen Richtung. Tamil und Englisch lernte ich als Sprachen der Kommunikation; sie kamen von einem Körper, der anwesend war, im selben Raum wie ich. Die Linie dieser Sprachen verlief horizontal: von Mund zu Ohr und Mund zu Ohr - von Angesicht zu Angesicht. Sie wurde später durchkreuzt, von einer vertikalen; von einer Sprache, die von oben kam: von Jehova zu mir und von mir zu Jehova. Das habe ich geglaubt. Das war der Fall. In dieser Sprache habe ich anders gesprochen. In dieser Sprache wurde ich anders angesprochen. Ich habe geglaubt, genau zu erkennen, so wie ich auch glaubte, genau erkannt worden zu sein. Deutsch war die Sprache Gottes, weil ich in dieser Sprache Gottes Wort erfahren habe. Deutsch war die Sprache, die in unserer Gemeinde gesprochen wurde, und in der ich auch glaubte, gemeint worden zu sein, von jemandem, der ohne Körper anwesend, da war, in diesem und in jedem anderen Raum auch. Das war der Fall - ein Eingriff von oben. Die vertikale Linie: Zeugen Jehovas glauben, dass Jesus nicht am Kreuz, sondern am Pfahl gestorben ist. Die vertikale Linie: der erste Buchstabe.
Das erste Wort, das ich schreiben konnte, war nicht mein Name, sondern der Name Gottes, auf einem gelben Notizzettel mit einem roten Kugelschreiber der Kreissparkasse. Das J fing am oberen Rand an und endete am unteren. Es entsprach den Maßen des Papiers. Das zweite Wort, das ich schreiben konnte, war der Name seines Sohnes. Und noch immer sehe ich in diesem Buchstaben beides, gleichzeitig, den Namen des Vaters und den Namen des Sohnes; den Körper des Vaters und den Körper des Sohnes: Ich sehe Jehovas Arm, der vom Himmel aus auf die Erde greift, und der sich nimmt, was ihm gehört, und auch den Pfahl sehe ich darin, tief im Boden befestigt, den Leib Christi, das Blut, die Richtung des Bluts; diesen Bund. Das habe ich geglaubt. Von dieser Sprache bin ich ausgegangen. In dieser Sprache schreibe ich.
Sie besitzt immer noch die Erinnerung an diese Intimität, auch wenn sie leerer geworden ist, stiller. Es ist eine andere Stille als die des Gebets. Das ist der Fall - ein Sturz durch einen metallenen Spiegel. Ich bin ein Schriftsteller ohne Sprache. Aus dieser Leere schreibe ich. Das, was ich schreibe, ist nur ein Zeichen der Vernichtung, der wir entkommen sind, so, wie auch wir, unser Körper, unser Sprach- und Schriftkörper, immer ein Zeichen dieser Vernichtung gewesen sein werden. Der Tod ging uns voraus, auch unserer Sprache. Er war der Grund für unsere Ankunft. Auf diesem Grund schreibe ich. Sprachlosigkeit hat im Deutschen zwei Bedeutungen: das Fehlen eines augenblicklichen Zugriffs auf Sprache angesichts eines Ereignisses, das uns die Sprache nimmt, uns die Sprache verschlägt. Wir sagen "ich bin sprachlos", oder "es fehlen mir die Worte". Sprachlosigkeit kann aber auch die Permanenz einer fehlenden Verfügbarkeit bedeuten - die andauernde Abwesenheit einer Sprache.