Was ist Heimat?:Uns, Wir, Die, Ossis, Wessis

Was ist Heimat?: Im Miteinander zeigt sich der Protest: Längst behobene Grenzen scheinen sich wie Anker in das kollektive Gedächnis verhakt zu haben.

Im Miteinander zeigt sich der Protest: Längst behobene Grenzen scheinen sich wie Anker in das kollektive Gedächnis verhakt zu haben.

(Foto: dpa(2); photocase; Bearbeitung SZ)

In Sachsen ist unsere Autorin plötzlich "Volksverräter" und "Lügenpresse". In München "der Ossi". Über eine Heimat-Rückkehr, die mehr aussagt als Deutschland lieb sein sollte.

Von Antonie Rietzschel, Leipzig

Nach der Bundestagswahl, dachte ich, kommt der Neustart. Die Ergebnisse hatten Deutschland schließlich erschüttert. Und sie brachten vor allem eine Gewissheit über meine Heimat Sachsen: Es war nicht mehr nur ein Gefühl, dass hier Menschen rassistischem und menschenfeindlichem Gedankengut anhängen. Es waren jetzt Zahlen: 27 Prozent hatten für die Alternative für Deutschland (AfD) gestimmt. Stärkste Kraft im Bundesland. Die CDU hatte zwei Direktmandate an die neue Kraft eingebüßt. 2019 kommen Landtagswahlen. Und Stanislaw Tillich, der CDU-Ministerpräsident, sagte, er verspüre stark den Wunsch, dass Deutschland Deutschland bliebe.

Gewagte Aussage. Jahrelang konnten sich in Sachsen schließlich rechtsextreme Strukturen entwickeln, ohne dass die sächsische CDU, die lange allein regierte, darin ein Problem sah. In Sachsen liegen Schauplätze heftiger Übergriffe auf Migranten. Dass die die AfD hier hohe Zustimmungswerte erreichte, war keine Überraschung. Als Reaktion verordnete Tillich seiner Partei einen Rechtsruck. Sein Nachfolger tat es ihm gleich. Ich war wütend, enttäuscht - fühlte mich verraten. Schließlich hatte ich vor der Wahl den Entschluss gefasst, wieder zurück nach Sachsen zu ziehen. Auch weil ich glaubte, gebraucht zu werden.

Ich hatte mich für meine Heimat entschieden - doch gehörte ich da wirklich noch hin?

Es gibt keinen schöneren Platz

Das Verhältnis zu meiner Heimat war schon immer zwiespältig: Ich bin in einem kleinen Ort nahe Dresden großgeworden, umgeben von einer aktiven Dorfgemeinschaft. Mit einem rührigen Heimatverein. Ich spielte auf unserer Naturbühne Theater, mein Vater organisiert bis heute kleine Ausstellungen. Von unserem Dorf aus kann ich bis in die Sächsische Schweiz hinein schauen. Es gibt für mich keinen schöneren Platz.

Was ist Heimat?

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Aber ich lernte auch früh, was es heißt, mit Rechtsextremen zu leben - und mit Ohnmacht: Zur Landtageswahl hing an jedem Laternenmast ein NPD-Plakat. In Dresden, dieser wunderschönen Stadt, liefen jahrelang tausende Nazis durch die Straßen, vorbei an der Semperoper, dem Zwinger - und der Synagoge. Gab es Stress, neigte man dazu, die Gegendemonstranten dafür verantwortlich zu machen. "Die provozieren unnötig." Sagten sogar Familienmitglieder.

Eine Freundin aus Hamburg forderte einmal in der S-Bahn zwei Nazis auf, ihre laute Musik auszumachen. Sie warfen eine Bierflasche nach ihr. "Bist du verrückt?", fragte ich sie und bewunderte gleichzeitig ihren Mut. Ich war nicht mutig. Bis heute verfolgt mich diese Szene: Zwei Typen beschimpfen in der S-Bahn ein vietnamesisches Paar. Ich hätte nicht mal was sagen müssen. Es hätte vielleicht schon gereicht, mich zu dem Paar zu setzen. Doch ich tat nichts.

2007 ging ich weg. Lebte auf Distanz: in Bremen, Kasachstan, Russland, Berlin, München. Nach Hause kehrte ich nur als Gast zurück, ich machte Urlaub auf dem Dreiseitenhof meiner Eltern. "Du sächselst gar nicht mehr - willst wohl nicht mehr zu uns gehören", sagte eine alte Schulfreundin irgendwann mal.

Mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung gab es wieder Mauern, Unverständnis, Hass sogar Gewalt. 2015, als Neonazis vor einer Asylunterkunft in Heidenau randalierten, war ich als Berichterstatterin vor Ort. Als ich mit einem Bewohner diskutierte, brüllte der mich an: Er lasse sich von mir, einem "Wessi", gar nix sagen. Sieben Jahre war ich in Heidenau zur Schule gegangen. Dass ich Journalistin war und hochdeutsch sprach, ließ den Mann annehmen, dass ich "nicht von hier" komme.

Uns. Wir. Die. Ossi. Wessi. Wo stand ich? In Sachsen war ich: "Volksverräter", "Lügenpresse". In München, wo ich lebte, war ich: der Ossi. Und meine Heimat: gefühltes Krisengebiet.

Entspannt Urlaub machen ging nicht mehr. Zu oft überlagerten sich Erholung und Gesinnung. Fuhr ich Fahrrad in der Sächsischen Schweiz, stand am Straßenrand ein Typ mit "Made in Germany"-Tattoo. Zeigte ich einer Freundin Bautzen stand an einigen Häuserwänden "Nazi-Kiez". Saß ich im Cafe, unterhielt sich eine Familie über "Schlitzis". Besuchten mich Freunde, feuerten sie ihre Nazi-Witze ab. Hahaha. Ich war traurig.

Das war jetzt also auch "Dunkeldeutschland"

Dabei war das Dorf meiner Eltern immer mein Rückzugsort gewesen. Im Sommer saß ich unter dem Kirschbaum, las ein Buch oder schaute. Einfach so, Stundenlang. Mit der Bundestagswahl verlor auch dieser Ort seine Unschuld. 40 Prozent erreichte die AfD in der Gemeinde. Ich musste nach Hause, um von dort zu berichten. Mit dem Leihwagen fuhr ich die Straße hinunter, die zum Haus meiner Eltern führt. Die Felder, die Wälder, der 800 Jahre alte Baum auf dem Dorfplatz - das war jetzt also auch "Dunkeldeutschland", "Kaltland".

Ich zweifelte an meiner Entscheidung, wieder zurückkommen zu wollen. Doch bei meinen Recherchen hatte ich immer wieder Menschen getroffen, die wie ich wütend und enttäuscht sind, die zwischen dem "Wir" und dem "Die" stehen. Zu gut kann ich mich an eine Bürgermeistern erinnern, in deren Gemeinde Rechtspopulisten und Rechtsextreme gemeinsame Sache machen. Weil sie sich klar dagegen positioniert hatte, wurde sie gemieden, sogar bedroht. "Ich will nur noch hinschmeißen", sagte sie mir. Und blieb.

Auch ich will Sachsen nicht aufgeben

Nach der Bundestagswahl besuchte ich eine Bekannte meiner Eltern. Sie war tief getroffen von den Wahlergebnissen. Vor ihr lag die Zeitung. Die erste Seite des Lokalteils zeigte das Foto von Frauke Petry, die damals ein Direktmandat für die AfD gewonnen hatte. Ein paar Seiten weiter, das Foto meiner Bekannten. Für ihr Engagement für Flüchtlinge war sie als "Botschafterin der Wärme" ausgezeichnet worden. Wir legten beide Bilder nebeneinander. Besser hätte man die Zerrissenheit meiner Heimat nicht darstellen können. Ich fragte, ob, sie jemals darüber nachgedacht hat, weg zu ziehen? "Nein, das ist doch meine Heimat hier, die gebe ich nicht auf."

Auch ich will Sachsen nicht aufgeben - und bin zurückgekehrt. Ich lebe jetzt in Leipzig. Auch ein Ort zwischen "Wir" und "Die": Bei der Bundestagswahl wählten viele in der Stadt SPD und Linke. Auf den Wahlkarten war Leipzig ein kleiner roter Fleck inmitten der schwarzen und blauen Flächen. Ein Rechtspopulist sprach vor kurzem vom "roten Stachel", den es auszureißen gilt. In der Tram hörte ich ein paar Tage später die Bewerde eines Ehepaars, dass es in Leipzig so viele Ausländer gebe. Es kam aus Dresden.

Doch auch in Leipzig deutet sich der Riss an. Eine Freundin, die gerade aus München hergezogen ist, schreibt mir regelmäßig Nachrichten wie diese: "Im Waschsalon sitzt ein Typ. Dem hängt sein Schlüsselband aus der Hose, wo draufsteht 'Nationalisten - Deutschland schützen'." Vor kurzem erzählte sie mir, dass ihre Kollegin abends nicht mehr raus gehe, weil sie Angst vor den "maximal Pigmentierten" habe.

Ich war schockiert

Ich liebe meine Heimat. Und ich hasse sie. Die Zerrissenheit wird für immer bleiben. Etwa zu Weihnachten, als ich wieder auf das Haus meiner Eltern zufuhr, vorbei an dem 800 Jahre alten Baum auf dem Dorfplatz. Unser Hof war behängt mit Sternen aus Hernnhut. Drinnen roch es nach Räucherkerzen, die Pyramide aus dem Erzgebirge drehte sich. "Kaltland" war weit weg. Dann sagte mir mein Vater, dass ein syrischer Bekannter in Dresden von Rassisten zusammengeschlagen worden war.

Er erzählte es so, als handle es sich lediglich um eine Kneipenschlägerei: "Du weißt doch wie das ist: Ein Wort gibt das andere." Ich war schockiert, verstand nicht warum mein Vater das mit so gleichgültiger Stimme sagte. Ich redete auf ihn ein, erklärte ihm, wie krass ich das finde. Er schaute mich mit großen Augen an, als schien er zu verstehen, dass ein solcher Übergriff keinesfalls normal sein sollte. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich durchaus gebraucht werde. Und sei es nur in meiner Familie. Als jemand der diskutiert und widerspricht. Das ist meine Aufgabe. Ich bin motiviert. Noch.

Lese-Tipp: Christian Gesellmann kommt aus Zwickau und fragt sich: "Auf was kann man eher verzichten? Aufs Weggehen oder aufs Wiederkommen?" Ein trauriger und nachdenklicher Text.

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