Dass man sich mit einer solchen Perspektive in der aktuellen Debatte fast der Albernheit verdächtig macht, zeigt, wie weit der Kulturessentialismus den Diskurs um das Medium der Verbindung schon beeinflusst.
Deshalb ist es keineswegs eine Banalität zu betonen, dass das Internet die Heimat einer Generation ist, die völlig selbstverständlich mit der Idee von Völkerverständigung und Verbindung aufwächst. Auf diese Weise aufs Internet und auf die dort entstandene Heimat zu schauen, eröffnet einen völlig neuen Blick auf die Debatte um eine vermeintlich so bedrohte Identität. Es macht den Kulturessentialisten die Deutungshoheit über die Begriffe Heimat und Identität streitig und dokumentiert eine Wertschätzung für die Ideen des freien Wissens, des Pluralismus und der Meinungsfreiheit.
Wäre die Praxis des Verlinkens oder des Mail-Schreibens nicht ebenso förderungs- und erhaltenswert wie die Morsetelegrafie?
Die Angehörigen von Andreas Reckwitz' Hyperkultur sollten nicht länger leugnen, welche Bedeutung Heimat hat. Sie sollten sie, im Gegenteil, betonen und dabei umdeuten, wenn man so will: hacken. Das weltweite Dorf kann ebenso Heimat sein wie ein ländliches Dorf - gerade weil dies auf lange Sicht die Idee einer ausschließlich regional begründeten Heimat ad absurdum führt. Heimat ist im 21. Jahrhundert vielmehr ein Ort, an dem Menschen sich unabhängig von Religion, Sprache oder Nationalität verbinden können.
Dadurch verändert sich nicht nur die Debatte um Heimat und Identität. Konsequent verfolgt, lassen sich aus einer solchen Perspektive noch ganz andere Forderungen ableiten an Schulbuchkommissionen, Rundfunkräte oder sogar an ein möglicherweise zu gründendes Bundesheimatministerium. Alle diese Einrichtungen müssten künftig auch für jene eintreten, die im Netz zu Hause sind. So nimmt die Hyperkultur Einfluss auf die Agenten des Bewahrens und Konservierens.
Denn auch im Web sind in den vergangenen Jahren kulturelle Praktiken entstanden, die ebenso bedeutsam, verbindend und erhaltenswert sind wie beispielsweise die traditionelle Flussfischerei an der Mündung der Sieg in den Rhein, die sächsischen Knabenchöre oder der hessische Kratzputz. Diese drei Beispiele stammen aus dem Verzeichnis "Immaterielles Kulturerbe der Unesco" - ein 134-seitiges Werk, in dem "überlieferte kulturelle Ausdrucksformen" gesammelt werden, "die in Deutschland praktiziert werden".
Diese sind allesamt bedeutsam und sollen durch den Kontrast mit der digitalen Welt keinesfalls lächerlich gemacht werden, im Gegenteil. Es geht um die Frage, ob die Möglichkeiten des Verlinkens im Web oder die Praxis des Mail-Schreibens nicht ebenso förderungs- und erhaltenswert sind wie die Morsetelegrafie (S. 83). Ist das Prinzip der Netzneutralität nicht in gleicher Weise identitäts- und heimatstiftend wie es Märchenerzählen (S. 77), Schach- (S. 110) oder Skatspielen (S. 115) sein können? Und sollte eine gegenwärtige Gesellschaft nicht das Chatten oder die Meme-Kultur des Netzes in gleicher Weise fördern und wertschätzen wie beispielsweise das Mundart-Theater im regionalen Raum (S. 102)?
Diese Diskussionen an die Orte zu tragen, in denen es um die Pflege von Brauchtum geht, wäre ein notwendiger Schritt, um den Blick auf die Heimat, aber auch auf das Internet zu verändern. Denn die amerikanischen Angriffe auf die Idee der Netzneutralität, die Enthüllungen von Whistleblowern wie Edward Snowden und die monopolartige Übermacht der GAFAM genannten großen Fünf der Internetbranche (Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft) zeigen, dass das Internet nichts ist, was einfach immer da ist, sondern eine Erfindung, für deren Erhalt es sich zu kämpfen lohnt. Es wäre die wohl modernste Art des Heimatschutzes.