Süddeutsche Zeitung

Was ist Heimat?:Die Kraft des Erzählens

In der Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Nationalismus ist die EU auch deshalb schwach, weil sie es nicht geschafft hat, als Heimat ihrer Bürger wahrgenommen zu werden. Wie das möglich werden könnte, zeigen aktuelle Erzählungen und Romane.

Von Karin Janker

So anachronistisch die Idee der Heimat angesichts der globalisierten Welt erscheint, in der abgegrenzte Territorien obsolet, Märkte grenzenlos und Migrationsbewegungen unvermeidlich geworden sind, so attraktiv ist sie gerade in diesen Zeiten. Ob in Großbritannien oder Katalonien, überall in Europa geht in den politischen Separatismus die Suche der Menschen nach dem ein, was sie Heimat nennen, umhegen und abgrenzen können. Das gefährdet die europäische Idee. Im Wettstreit mit den Separatismen fehlt der EU dieser Bezugspunkt. Sie ist nie zu einer Heimat geworden.

Jean Monnet, einer der Gründervater der EU, ging noch davon aus, dass die Nationalstaaten, die für ihn vor allem ökonomische Interessen nationaler Eliten verkörperten, bald an Bedeutung verlieren würden. Die EU sollte als Dach vieler kleiner Regionen fungieren. Heute besteht die EU laut Eurostat-Broschüre aus 276 einzelnen Regionen wie Oberbayern oder der Provence. Doch bislang gelingt es der EU nicht, ein den Kontinent umspannendes Heimatgefühl zu erzeugen. Voraussetzung dafür wäre, dass Europa eine Erzählung darüber entwickelt, was es ist. Denn Heimat ist letzlich weniger ein Ort als vielmehr ein Narrativ, erzählte Herkunft.

Heimat muss erzählt werden, sagt der Historiker Christian Jansen, der an der Universität Trier zur Idee der Nation forscht: "Man müsste Europa als Nation neu erfinden. Nationen sind immer etwas Erfundenes." So zeige gerade die Geschichte der USA, dass auch ein multiethnisches und multikulturelles Gebilde zur Heimat werden und einen eigenen Nationalismus entwickeln könne, sagt Jansen.

Dass die EU bislang kein Heimatgefühl prägen konnte, liegt nicht zuletzt am Mangel an Möglichkeiten zur Teilhabe und Mitgestaltung. Für den Historiker Dieter Langewiesche ist das partizipative Element essenziell: "Historisch gesehen war der Nationalstaat so etwas wie ein Teilhabeversprechen für alle - auch wenn das innerhalb eines Staates erst erkämpft werden musste, wenn man etwa an das Frauenwahlrecht denkt. Aber auch die Frauen konnten sich auf das Gleichheitsversprechen des Nationalstaats berufen." Aus dieser Tradition heraus, so Langewiesche, versprechen sich viele Anhänger separatistischer Bewegungen, dass sich Mitwirkung und Teilhabe in kleineren Staatsgebilden leichter verwirklichen lassen. Seit Jahren fordern Parteien wie die FPÖ mehr Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild.

Weil dieser Wunsch nach Mitgestaltung so universal ist, sind es nicht lediglich Rechtspopulisten, die nach klar umrissenen Staatsgebieten rufen. In Katalonien etwa haben vor kurzem linke und bürgerliche Parteien die Mehrheit im Parlament errungen, die eine unabhängige katalanische Republik fordern. Dann, so hoffen sie, funktioniere alles besser: die Schulen, die Krankenhäuser, die Autobahnen. Die Idee eines linken Separatismus stößt jedoch schnell an innere Widersprüche. Viele Katalanen werfen dem spanischen Staat vor, sie zu gängeln und mit ihren Steuern ärmere Regionen zu finanzieren. In der EU aber wollen sie bleiben. Und die EU ist nun einmal eine Solidargemeinschaft, die Ansprüche an ihre Mitglieder stellt.

Eine Idee von Europa als Heimat, so scheint es, haben am ehesten jene, die gar nicht aus Europa stammen: Flüchtlinge, die sich Schleppern ausliefern, die gefährliche Reise übers Mittelmeer auf sich nehmen oder auf anderen Wegen eine neue Heimat suchen. Sie träumen von einem Sehnsuchtsort, der "Europa" heißt. Den Geschichten, die diese Neuankömmlinge von Europa erzählen, so utopisch sie auch klingen mögen, sollten wir zuhören, um ein Europa zu schaffen, das tatsächlich Heimat wird. Das Narrativ Heimat bedarf ständiger Fortschreibung. Und zwar nicht nur in der Politik, sondern auch in Büchern, Filmen, Schulen, Zeitungen. Romane wie etwa "Altes Land" von Dörte Hansen oder "Der Fuchs" von Nis-Momme Stockmann spüren demselben Gefühl der Entwurzelung nach, auf das die AfD, die FPÖ oder der Front National eine Antwort gefunden zu haben glauben. Sie tun es mit den Möglichkeiten der Literatur, ohne Separatismus, ohne Ressentiments.

Glück hat, wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will."

Die neuen Heimatromane kehren das Prinzip des Bildungsromans um. Heimat ist in ihnen nicht mehr ein Ort, von dem man auszieht, um die Welt zu erkunden. Die Heimat kommt abhanden, ohne dass etwas gewonnen wäre. Die Helden kehren zurück in die Provinz, in der sie eigentlich nichts verloren haben. Doch die Literatur beschwört nicht lediglich die Ratlosigkeit der Heimatlosen. Sie beginnt zugleich, von Europa als Heimat zu erzählen. Etwa bei Saša Stanišić, der den Versuch unternimmt, Heimat nicht zu bewahren, sondern neu zu erfinden. Sein Roman "Wie der Soldat das Grammofon repariert" über die Flucht seiner Familie aus Bosnien nach Heidelberg kreist um die Kontingenz dessen, was wir Heimat nennen. In seiner Poetikvorlesung in Zürich brachte es Stanišić kürzlich auf den Punkt: "In Bosnien hat es geschossen am 20. August 1992. In Heidelberg hat es geregnet. Es hätte auch Osloer Regen sein können, jede Heimat ist eine zufällige - dort wirst du halt geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Nieren an die Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will." Stanišić, der 1992 mit seinen Eltern aus dem bosnischen Višegrad nach Deutschland floh, wird oft in die Schublade "Migrantenliteratur" gesteckt. Dabei ist er eigentlich einer der besten Heimatschriftsteller in deutscher Sprache. Heimat nennt er sein "Dort, während ich erzähle" und meint damit "gestaltende Augenblicke im Erzählen, das Erschaffen von etwas, in dem andere ein Zuhause erkennen", seine Arbeit an der Welt.

Diese Arbeit an der Welt bezeichnet der Nationalismusforscher Langewiesche als "Mitgestaltungsaspekt von Heimat". Es ist das Gefühl, die eigene Welt gestalten zu können, das viele vom katalanischen Girona bis zum englischen Boston vermissen, beides Hochburgen des Separatismus. Dabei könnten sie von jenen, die von anderswo herkommen, lernen, dass Heimat nicht unauflöslich an Geburtsort und Ethnie gebunden ist, sondern wie für Stanišić eine "rätselhafte Verschränkung von Orten — unabhängig davon, wie weit auseinander sie liegen" sein kann. In solchen Erzählungen liegt die Zukunft Europas als Heimat, nicht als geschlossenes Staatsgebiet nur einer Sprach- oder Volksgruppe, sondern als gemeinsames Territorium, in dem die Rechte und Freiheiten aller garantiert sind und das alle Heimat nennen können, die diese Freiheiten genießen.

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Quelle:
SZ vom 02.01.2018
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