"Was ist deutsch?":Wenn das tiefe Glockengeläut erklingt

Eiserner Steg Frankfurt

Ein junger Mann auf dem Eisernen Steg in Frankfurt, links im Bild der Kaiserdom. Wenn der läutet, fühlt sich unser Autor zu Hause.

(Foto: DPA)

Was ist typisch deutsch? Was bedeutet Heimat? Unsere Vergangenheit? Die Literatur? Roggenbrot mit harter Kruste? Unser Autor ist sich zunächst unsicher - und kommt dann zu einem sehr persönlichen Schluss.

Gastbeitrag von Martin Mosebach

Die Frage "Was ist deutsch?" empfinde ich als eine Aufforderung zur Introspektion - ich bin Deutscher und kann mich aus einer Antwort auf diese Frage nicht herausstehlen, sie müsste ehrlicherweise mit einer Selbstauskunft beantwortet werden. Das aber ist mir das allerunangenehmste; es kann auch nichts rechtes dabei herauskommen, denn wer kennt sich schon? Aussagen wie: "Ich bin so" und "ich bin nicht so" sind meist Zeugnisse der Verblendung, peinlich oft genug sogar.

Meine deutsche Substanz herauszustöbern, die ohne Zweifel da ist, mir nur leider unbekannt, das gleicht der Suche im Heuhaufen nach einem Gegenstand, von dem man nur weiß, dass er keine Stecknadel ist. Die Fische ahnen nicht, dass sie von Wasser umgeben sind. Ich bin ins Erzählen von Geschichten ausgewichen, weil ich nicht von mir reden wollte. "Was ist deutsch?" Hundert Antworten fallen mir auf diese Frage ein - keine davon hält einer Überprüfung stand.

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Gibt es "die Deutschen?". Ist nicht die erste Frage, die da zunächst fallen müsste: "Welche Deutschen?" Deutschland, das von Anfang an geteilte Land. Von den Römern zu einer knappen Hälfte kolonisiert, im übrigen sich selbst überlassen - barbarisch geblieben. Dann die Religionsspaltung - die Teilung des Landes in zwei, nein, in viele große und kleine katholische und protestantische Teile, wobei bei den Protestanten noch einmal nach lutherischen und calvinistischen zu unterscheiden wäre.

Die großen politischen Antagonismen Preußen und Habsburg - einander spinnefeind bis zur Verachtung - zwei vollkommen unversöhnliche politische Positionen, die eigene Kulturen, eigene Charaktere, eigene Kunst hervorgebracht haben, mit der Herausstoßung der österreichischen Länder aus dem deutschen Bund als gewaltsamer Lösung eines unlösbaren Problems. Die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die neben allem Unglück, mit dem sie verbunden war, eben auch viel mehr oder weniger verhohlene Zustimmung fand; diese Teilung war eine Bestrafung durch die Sieger, die zu nicht geringen Teilen bereitwillig akzeptiert wurde, als sei da etwas organisch Gesundes entstanden, ein heilsamer Schnitt, der wehtat, aber notwendig war.

Es gibt viele Zeitgenossen, denen dies Verweilen bei den Stationen der Geschichte lächerlich und überholt vorkommt - nichts ist so staubgrau versunken wie die Differenzen der Vergangenheit - das Heilige römische Reich, ein Witz, Religion gibt es ohnehin nicht mehr, einen Gegensatz zwischen Rom und den Barbaren, wer dürfte den im technokratischen Einheitseuropa noch zu erkennen wagen. Mir geht es anders. Im Guten und Bösen bin ich an die Vergangenheit gefesselt. Wenn ich "Deutschland" höre, ist meine erste Frage: "Welches Deutschland?" In der Antwort ist meistens nicht von meinem Deutschland die Rede.

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Die großen deutschen Schriftsteller haben Deutschland nicht geliebt, Klage, Abscheu und Verdruss reihen sich auf den Seiten jener Autoren, deren Art und Weise deutsch zu schreiben die geistige Existenz ihres Volkes ausmacht. Hölderlin fand in Deutschland "Handwerker, Kaufleute", aber "keine Menschen". Das ist natürlich etwas pauschal, aber dem französischstämmigen Theodor Fontane wird man kaum widersprechen können: "die slawisch-germanische Misch-Race" sei zu vielem befähigt, nur nicht zu "Form und Geschmack". Rudolf Borchardt, ein begnadeter Verflucher, schrieb, "das deutsche Volk en masse" habe "die europäische Kultur, die ihm importiert worden" sei, "nie wirklich recipiert und sich vielmehr immer in stummer Auflehnung gegen sie" befunden.

Um Deutschland lieben zu können, muss man etwas leisten

Sehr spät ist in Deutschland der Nationalismus erwacht - Arthur Schopenhauer meint noch, die Deutschen seien das einzige Volk Europas, das an dieser Dummheit keinen Anteil habe; das gehört vielleicht zu den Gründen, warum er in Deutschland so besonders peinlich ausfiel und warum er dann wieder so gründlich verschwand - in der Geschichte des Volkes hatte er keine tiefen Wurzeln. Aber eines fällt auf: Wenn man im Ausland auf Germanophile trifft - in England, Frankreich, Russland -, dann gehören sie stets zur Elite ihres Volkes. Um Deutschland lieben zu können, muss man etwas leisten.

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Was gut ist in Deutschland: säuerliches Roggenbrot mit einer krachend harten schwarzen Kruste. Firn gewordener Riesling vom Rheingau oder der Mosel. Helles bayrisches Bier, das nach beinahe nichts schmeckt. Aber sollte ich Deutschland verlassen müssen, wäre es nur der Firnewein, der mir fehlen würde - dieser Geschmack ist unersetzlich.

Drei Stilrichtungen der Literatur hat Deutschland hervorgebracht: deutsch ist der Märchenton, die sanfte schlanke Einfalt mit ihrer rätselhaften Lakonie der Brüder Grimm und des Johann Peter Hebel, von Robert Walser, Franz Kafka, Bertolt Brecht und W.G. Sebald. Deutsch sind die verschlungenen Manierismen und Dunkelheiten des Georg Friedrich Hamann und des Jean Paul. Das deutsche Laster aber ist der Expressionismus - bei Martin Luther beginnend, im Sturm und Drang die neue Zeit erreichend, in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts nicht endend: Wahrheitsaufdringlichkeit, Gefühlsprahlerei, Rotz und Wasser, Schmalz und Schleim. Weil das beste, was wir haben, bestimmte Gedichte sind, und nicht wie bei Engländern, Franzosen und Russen Dramen und Romane, weil unser Bestes unübersetzbar ist, darf man dankbar sein, wenn man in die deutsche Sprache hineingeboren wurde - wer das nicht ist, dem entgeht etwas.

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Ist ein Deutscher vorstellbar, der in seiner Existenz nicht irgendwie und noch so schwach von der deutschen Disposition zum Bürgerkrieg gezeichnet ist? Wäre ein Deutscher, der von der deutschen Spaltungsgeschichte vollständig frei wäre, nicht ein Kunst-Deutscher, von der Geschichte gar nicht vorgesehen? Fehlte einem solchen Deutschen nicht etwas oder gewönne er durch diesen Mangel am Ende gar etwas? Würde an ihm ein "heiliger Deutscher" sichtbar, Verkörperung eines ursprünglichen Deutschland als Gedanke Gottes, vor aller Spaltung? Oder bliebe dann nur eine verflachende Amnesie zurück, die zufällig deutsch spricht?

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Von tausend Jahren deutscher Geschichte nimmt die Epoche des Nationalismus noch nicht einmal hundert Jahre ein. Der Deutsche, der sich in andere Völker bis zur Aufgabe der eigenen Herkunft einzufühlen vermag, ist lange Zeit der vorherrschende Typus gewesen. Übersetzungen nehmen einen großen Raum in der deutschen Literatur ein - an Übersetzungen bildete sich die deutsche Sprache. Deutsche Philologen schrieben die Grammatiken und Wörterbücher vieler Völker - sie erfanden diese Völker geradezu und schufen die philologische Voraussetzung zu deren Nationwerdungen. Deutsche Prinzen und Prinzessinnen waren auf ausländischen Thronen hochwillkommen, weil sie sich ihrer neuen Heimat restlos anverwandelten - Prinzgemahl Albert, der "erste Gentleman" Englands und Zarin Alexandra, die russischste aller Russinnen. Mit der knappen Mehrheit von einer deutschen Stimme wurde Deutsch als Landessprache der Vereinigten Staaten von Amerika verworfen.

Mir ist die Neigung wohl vertraut, mich im fremden Land zu verlieren, die Freude, die fremden Gebräuche zu erahnen und mich ihnen anzubequemen, das Gedankenspiel, für immer in der fremden Welt zu versinken und nie mehr nach Haus zurückzukehren. Ist das das Deutsche an mir?

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Die Deutschen kauften eine Bahnsteigkarte, wenn sie als Revolutionäre einen Bahnhof besetzen wollten, höhnte Lenin. Ja, Revolutionen mit flatternden Fahnen auf Barrikaden hat es bei uns kaum gegeben. Aber diese Revolutionen - waren sie nicht die theatralische Beigabe zu der eigentlichen, die ganze Welt bis zur Wurzel hin verändernden industriellen und technischen Revolution? Und an dieser Revolution, der eigentlichen Umstürzerin der alten Welt, waren die Deutschen im höchsten Maß beteiligt und vielfach sogar in der ersten Reihe. Kommunismus und Nationalsozialismus, Auto und Telefon, Penicillin und Computer, Fernsehen und Atombombe, industrielles Bauen und Autobahn, und schließlich sogar der industrielle Massenmord sind ohne federführende deutsche Mitwirkung nicht zu denken.

Verbindungen zur Vergangenheit gekappt

In Europa ist Deutschland das Land, das die Verbindung zu seiner Vergangenheit am vollständigsten gekappt hat. Es ist das modernste aller europäischen Länder. Der Fortschritt ist deutsch. Wer sich dem Rhythmus des Fortschritts nicht beugen will, der ist hier fehl am Platz. Was bedeutet das für mich?

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Die größte Glocke im Frankfurter Kaiserdom heißt "Gloriosa"; im kriegerischen Europa wurden viele Glocken nicht sehr alt - Glockenbronze wurde zu Kanonen gegossen, im Fall der "Gloriosa" aber auch einmal umgekehrt; dreizehn Tonnen stammen von 1871 eroberten französischen Kanonen, fünf Tonnen konnte man aus dem Schutt des 1869 abgebrannten Doms herauskratzen.

Die "Gloriosa" ist so groß, dass es wohl klug ist, sie nicht allzu häufig zu läuten. Sie wird nur zu den großen Festen bewegt. Ihr Klang ist so tief, dass man ihn weniger mit den Ohren denn mit dem ganzen Körper hört - nicht laut, aber langsam die ganze Luft durchdringend. Nie gelingt es mir beim Beginn des Läutens den ersten Ton mitzubekommen; wenn ich sie höre, hat sie stets schon eine ganze Weile geläutet. Sanft und ernst schafft sie einen Klangraum, der weit reicht. Ich liebe auch den Glockentumult der weniger spektakulären Geläute in ihrer Aufgeregtheit, aber die "Gloriosa" ist etwas anderes - die akustische Entsprechung des Goldgrundes auf einem mittelalterlichen Bild. Ich habe sie immer als Ankündigung und zugleich Gegenwart von etwas Außerordentlichem empfunden, Verwandlung der Luft und damit Erscheinung einer anderen Wirklichkeit, und das keineswegs erst seitdem meine Mutter nahe am Domturm in einer Weihnachtsnacht starb, während die "Gloriosa" läutete.

Dieser tiefe Glockenton bringt den Zorn über die weitgehende Verhunzung meiner Geburtsstadt jedesmal für eine Weile zum Schweigen. Wenn ich mich eindringlich prüfe, womit ich ein Gefühl von Heimat verbinde, dann gelange ich schließlich zum Geläut der "Gloriosa".

Martin Mosebach ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Das Blutbuchenfest" (Hanser Verlag).

"Was ist deutsch?": Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich.

Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich.

Serie
Was ist deutsch?

Die Serie "Was ist deutsch?" behandelt Facetten und aktuelle Fragestellungen deutscher Identität. Erschienene Artikel:

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