Warum wir doch eine Religion brauchen:Lob des Glaubens

Ist Gott tot? Allein schon die Frage erscheint nicht Wenigen als hoffnungslos veraltet. Doch: Bevor wir vom Glauben reden, tun wir gut daran, vom Denken zu reden. Denn hinter die Aufklärung kann keiner zurück.

Rainer Stephan

Keine Missverständnisse bitte: Um neue Spiritualität geht es hier so wenig wie um die angeblich notwendige Rückkehr zu alten Werten. Vollends mit esoterischer Weichkocherei, metaphysischem Geraune oder auch nur kirchentagsmäßigem Gut-Drauf-Sein muss, ja sollte gerade ein beherztes Lob des Glaubens möglichst wenig am Hut haben. Wenn wir vom Glauben reden, reden wir ja nicht unter Engeln, selig Berauschten oder sonstwie der Erde entrückten Geschöpfen miteinander, sondern unter Menschen aus Fleisch und Blut, mit Herz und Hirn. Denn was bitte hülfe uns ein Glaube, dem wir uns erst nähern dürften, sobald wir diese wesentlichen Elemente unserer Menschen-Existenz zuvor an der Garderobe abgegeben haben?

Warum wir doch eine Religion brauchen: Wer im Namen seiner religiösen Überzeugung gesicherte physikalische wie etwa evulotionsbiologische Forschungsresultate ablehnt, agiert aus einer vor allem abergläubischen Haltung heraus.

Wer im Namen seiner religiösen Überzeugung gesicherte physikalische wie etwa evulotionsbiologische Forschungsresultate ablehnt, agiert aus einer vor allem abergläubischen Haltung heraus.

Gerade fürs Hirn gilt das zuallererst. Bevor wir vom Glauben reden, tun wir daher gut daran, vom Denken zu reden - so wie wir uns nicht ohne Not schon da dem Glauben in die Arme werfen sollten, wo uns das Denken, inklusive seiner möglichen Anstrengungen, noch weiterbringt. Und um schon an dieser Stelle den ersten Ballast über Bord zu werfen: Wer im Namen seiner religiösen Überzeugung gesicherte physikalische wie etwa evulotionsbiologische Forschungsresultate ablehnt oder auch nur aus dem Schulunterricht verbannen möchte, agiert aus einer vor allem abergläubischen Haltung heraus, auf die wir unser Lob des Glaubens ausdrücklich nicht erstrecken mögen.

Im Übrigen lässt sich das Thema kaum im Handumdrehen abhandeln. Das aber nicht, weil Glauben etwas schwer Kompliziertes wäre. Glauben ist einfach; nur haben wir uns daran gewöhnt, das Glauben wie andere für unser Leben wichtige Dinge - die Liebe, das Glück, das Geben- wie das Nehmen-Können - oft bis zum Überdruss kompliziert zu machen. Weswegen es, auch in den hier folgenden Absätzen, zuallererst darauf ankommt, das um unsere Haltung zum Glauben wuchernde emotionale wie intellektuelle Gestrüpp wenn schon nicht zu durchdringen, so doch etwas zu lichten.

Ist Gott tot? Allein schon die Frage erscheint nicht Wenigen als hoffnungslos veraltet. Nietzsches Schlagwort "Gott ist tot" hat seinen provokanten Ton längst verloren; nicht nur Gottes Tod, sondern Gottes Nicht-Existenz gilt im 21.Jahrhundert weitgehend als ausgemacht. Das Verdienst daran kommt allerdings weniger Nietzsches (ihrerseits merkwürdig hochpriesterlichen) Übermenschen-Tiraden zu als der europäischen Aufklärung: jenem vielstimmigen Chor von Denkern und Autoren, die dem politisch-ökonomischen Übergang in die Moderne - oder anders: dem sich zunehmend rational organisierenden Kapitalismus - zu seinem geistigen Überbau verholfen haben.

Lob des Glaubens

Dass dann die marxistische Gegenbewegung die Religionskritik der Aufklärung sogar bis zur rigoros positivistischen Wissenschaftsgläubigkeit steigerte, stellt sich erst heute als gravierender Geburtsfehler heraus: ohne religiöse Rückbindung (ein weißer Schimmel: religio heißt Rückbindung) hängen die für die Aufklärung wie für Marx und Engels zentralen Begriffe von Menschenwürde, Menschenrecht und menschlicher Solidarität einfach nur in der Luft. Denn so sehr, und oft so brillant, sich die neuere Philosopie daran abarbeitete, in Anlehnung an Platon und Aristoteles, in der Weiterentwicklung naturrechtlicher Ansätze oder schließlich im Ausgriff auf die neuen Wissenschaften Soziologie und Psychologie, in sich plausible ethische Normen und Sinnstiftungsmodelle zu entwickeln, so regelmäßig sah sie sich dabei zum Scheitern verurteilt. Die bis zur Lächerlichkeit tragikomischen Überbleibsel dieser Entwicklung sind Ethik-Kommissionen: von Anfang an untaugliche Versuche, die nur in der Überzeugung und Entscheidung des Individuums begründbare Einstellung zur Umwelt wie zum eigenen Leben durch institutionalisierten "Sachverstand von außen" zu ersetzen.

Doch Vorsicht! Der machte es sich allzu leicht, der aus dem Scheitern areligiöser Wert- und Sinnbildungsversuche und dessen Resultat, dem fröhlich bis frustrierend wertfreien Neoliberalismus unserer westlichen Zivilisation, nun stracks wieder auf die Wahrheit oder auch nur auf die Tauglichkeit längst abgelegter Glaubenssätze schlösse. Neokonservatismus mag angesagt sein; aber schaut man genau hin, so beruht die Denkfigur, die dem Ruf nach unverrückbaren Werten seit je zum Aufschwung und zuweilen sogar zu zeitgeistigem Chic verhilft, auf einem tiefen Unbehagen gegen die Geschichtlichkeit der Menschen, ja letzten Endes gegen die als Dekadenz und fortschreitender Werteverfall erlebte Geschichte selbst.

Die Versuchung mag groß sein, jenem Verfall den Glauben an Gott als nicht nur außerweltliche, sondern auch übergeschichtliche Autorität gegenüberzustellen. Das Resultat bleibt dennoch frustrierend: Ein Glaube, der seinen Gegenstand unabhängig von Welt und Geschichte zu konstituieren versucht, liefert sich damit der Geschichte erst recht aus - und bleibt zugleich wehr- und zahnlos gerade gegenüber der Welt, mit der er sich nicht abfinden mag.

Andererseits, ein in den jeweiligen Gesetzmäßigkeiten der Welt (und das hieße heute: in der scheinbar unaufhebbaren Logik des Kapitalismus) gefangener wie den historischen Strömungsbewegungen des Zeitgeists (heute: des selbst unsere Triebe und Seelenregungen steuernden Warenfetischismus) schutzlos ausgelieferter Glaube macht sich derart relativierbar, dass er kaum noch seinen Namen verdient. Woher also unter solchen Prämissen einen Glauben nehmen, der mehr bewirkt und vor allem mehr bewegt als bloß reaktionäres Verharren auf der einen oder frei flottierende neue Innerlichkeit auf der anderen Seite?

Lob des Glaubens

Was sich zunächst wie die Aufforderung zur Quadratur des Kreises anhört, löst sich in einen einfachen Versuch des Begreifens auf, sobald wir uns eben von der scheinbar tröstlichen Annahme eines geschichtslosen Glaubens verabschieden - und damit auch von der gußeisern-autoritären Vorstellung von Gott als eines in jedem Fall "oben", über der Welt und der Geschichte thronenden Wesens.

Das setzt zugleich die Ablösung - nicht unbedingt die persönliche Ablösung, aber doch die der Essenz des Glaubens - von vertrauten Bildern und Emotionen voraus, eine Ablösung, die vielen von uns, darunter manch erklärtem Atheisten, bis heute alles andere als leicht fällt. Gott als Inhaber aller Gnadenmacht, als belohnender und strafender Weltenrichter, als Herr der Naturgewalten, Mohammed als triumphierender Vollstrecker von Gottes Willen, der persönliche Schutzengel oder der heilige Antonius, der frommen Katholiken verloren Geglaubtes wiederzufinden hilft: Solche Bilder einfach nur als falsch abzuklassifizieren, wäre bloß rationalistische Schnöselhaftigkeit. Selbst da, wo ihnen die ursprüngliche Legitimation abhanden gekommen ist, sind sie nicht so sehr falsch als vielmehr historisch: Bestandteile der Geschichte des Glaubens selbst wie auch, in mehr oder weniger ausgeprägten Formen, der individuellen Glaubensgeschichte jedes Einzelnen.

Zu Relativierungen besteht hier dennoch keine Notwendigkeit: Es gehört nicht viel Sensibilität dazu, in den meisten jener historischen wie lebensgeschichtlichen Manifestationen der Gläubigkeit jene über die konkreten Bilder, Vorstellungen und Gebräuche hinauswachsenden Aspekte - oder wie der in diesem Zusammenhang durchaus zitierfähige Marxist Ernst Bloch das formuliert hat, deren "unabgegoltenen Reste" - zu sehen und zu spüren, die selbst dann noch ihre hoffnungsgeladene, heilende oder auch nur tröstliche Kraft entfalten, wenn die Bilder oder Gebräuche selbst anachronistisch geworden sind.

Eben hier nähern wir uns der Frage nach der Natur des Glaubens, ja womöglich der Frage nach Gott. Und falls einem Worte wie "Aspekte" oder gar "Reste" dabei allzu prosaisch vorkommen: Bloch hat, kaum noch verhohlen religiös, auch vom "Vorschein" gesprochen - dem Vorschein einer besseren Welt, die zwar stets zukünftig bleibt, aber aus der Zukunft, aus unserer Zukunft, immer wieder in die jeweils aktuelle Gegenwart der Menschen hineinleuchtet.

Nun wird zum einen kaum jemand behaupten, dass er sich den (im wörtlichen oder übertragenen Sinn) segensreichen Wirkungen dieses Vorscheins konsequent entziehen könnte. Wobei es wenig Unterschied macht, ob der aufgeklärte Philosoph Kant sein ehrfürchtiges Schaudern angesichts "des gestirnten Himmels über uns" kundtut, ob eine Mozartsche Symphonie oder ein Chorwerk von Arvo Pärt uns heutige Bildungsbürger in mit Worten nicht zu beschreibende Dimensionen des Ergriffenseins versetzen oder ob das sprichwörtliche alte Mütterlein beim Beten des Rosenkranzes vor einer Madonnenstatue jenen überirdisch anmutenden Trost spürt, den ihm das Erdenleben ansonsten verweigert.

Lob des Glaubens

Andererseits: Zum Glauben an Gott liefern solche seelischen Heilswirkungen für sich genommen zwar womöglich den Anlass, aber streng genommen (und streng, nämlich intellektuell redlich, wollen wir hier bleiben) noch keinen zureichenden Grund. Wie, wenn das schöne Reden vom "Vorschein" nur ein rhetorischer Trick wäre, dessen Überzeugungskraft in Nichts zerfällt, sobald man die suggestive Vorsilbe fortlässt. Vorschein? Oder doch bloß schöner Schein, Opium fürs Volk, Suggestion und Autosuggestion mit anderen Worten?

Genau so haben ja die Religionskritiker aller Zeiten den Gottesglauben charakterisiert: als Versuch, sich das bittere Leben süß zu phantasieren und sich eine nicht einmal naturwissenschaftlich befriedigend erklärbare Welt wenigstens als sinnvoll vorzustellen. Wogegen, individualpsychologisch gesehen, ja nicht viel zu sagen wäre: Wieso sollte sich jemand das Leben, zumal wenn er's anders kaum aushält, nicht zurechtreden? Bedenklich wird das in den Augen der Religionskritik aber spätestens da, wo kollektiv geglaubt wird, wo sich Glaubensüberzeugungen zu Systemen verdichten, womöglich gar solchen, die die Deutungshoheit über den Glauben und damit den geistigen Herrschaftsanspruch über die Gläubigen für sich reklamieren - oft gegen die Interessen des vermuteten gesellschaftlichen Fortschritts, und gegen die des ökonomischen Fortschritts sowieso. Glauben ist, so betrachtet, nicht nur unbegründbar, er ist sogar gefährlich.

Führten wir, zum Lob des Glaubens, gegen diese Ansicht beispielsweise die Argumente Thomas von Aquins, Mohammeds, Luthers, Martin Bubers oder Benedikts XVI. ins Feld, käme wohl kein Atheist auch nur einen Augenblick ins Stolpern. So halten wir uns stattdessen lieber an einen aller Glaubensschwärmerei garantiert unverdächtigen Vertreter der Aufklärung und Rationalisten modernster Prägung: den Systemtheoretiker Niklas Luhmann.

Überraschend genug, dass Luhmann in seinem 1977 erschienenen Buch "Funktion der Religion" das "ideologische Entlarven und Hinterfragen" der großen Religionen als eine Art intellektueller Strampelübung für ewig-Gestrige abtut: "Pauschalkonfrontationen von Religion und Wissenschaft gehören den Überbleibseln der Entwicklungsphase der Gesellschaft an." Die weitere Argumentation korrigiert dann auch das Vorurteil vom Systemtheoretiker als "systemischem" Denker. Luhmann sieht die Welt insgesamt ausdrücklich nicht als System, sondern als real vorhandenen "Gesamthorizont, in dem das soziale System sich selbst auf seine Umwelt und seine Umwelt auf sich bezieht".

Lob des Glaubens

Diese wechselseitige Rückbeziehung lässt sich als Sinngebungsprozess beschreiben; aber - und das ist der springende Punkt - der dabei intendierte Sinn kann aus den bloß innerhalb der Systeme geltenden Gesetzmäßigkeiten so wenig bestimmt werden, so wenig sich aus wie immer beschaffenen sozialen Systemen sinnstiftende oder sinnerfüllende Werte ableiten lassen. Die einzige und damit notwendige Möglichkeit der Sinngebung für eine anders nicht bestimmbare Welt stellt für Luhmann daher die Religion dar, und mehr noch: Religion bleibt für ihn bis in die Neuzeit hinein auch Voraussetzung und Antrieb für jede entscheidende gesellschaftliche Evolution.

Der im 11.Jahrhundert lehrende und von der katholischen Kirche heiliggesprochene Philosoph Anselm von Canterbury (auf dessen Gedanken die meisten späteren "Gottesbeweise" zurückgreifen) hat gefordert, der Prozess der individuellen Glaubenseinsicht müsse sola ratione vor sich gehen: ausschließlich durch die Vernunft, mit notwendigen Gründen - so als ob man von der Bibel oder von Jesus Christus nichts wüsste. Hieße unser Text "Plädoyer für den Glauben", wäre daher die Versuchung groß, ihn an dieser Stelle zu beenden. Ein "Lob des Glaubens" erfordert aber zumindest einen Schritt mehr: jenen nämlich, der von der Glaubenseinsicht in den Glauben selbst führt, und damit von Vernunftgründen, die jeder passiv nachvollziehen kann, in die Überschreitung und zugleich Rück-Anbindung der Vernunft durch die aktive Entscheidung des Individuums für Gott.

Womit wir endgültig bei der alles entscheidenden Frage angekommen wären: Wer oder was ist das denn um Himmelswillen: Gott? Dass wir die Antwort darauf hier dennoch nur anreißen können, hat weniger mit der Fülle theologischen Denkens zu tun als vielmehr mit der notwendig geschichtlichen wie lebensgeschichtlichen Natur individueller Glaubensentscheidungen selbst. Kann nämlich Glauben nicht an die Stelle des Denkens treten, sondern immer erst nach dem Zuende-Denken des durchs Denken Zugänglichen einsetzen, dann müssen sich die Veränderungen unserer Denk- und Vorstellungsmöglichkeiten auch auf die Konditionen des Glaubens selbst auswirken. Und wenn auch all die daraus resultierenden Glaubensentscheidungen sich auf den einen Gott richten, so existiert dieser eine Gott doch nicht außerhalb der Geschichte. Zumindest gilt das für den christlichen Gott, der sich selbst nicht unabhängig von seiner eigenen Offenbarung in der Geschichte begreifen und beschreiben lässt.

Die Menschwerdung Gottes als Jesus Christus ist wie sein Tod Zeichen und Bestandteil dieser geschichtlichen Selbstoffenbarung, aber sie ist so wenig deren Ende, so wenig sie das Ende der Geschichte selbst markiert. Dennoch ist es das Ende, besser: die Aufhebung der Geschichte, an die wir glauben können, wenn wir an Gott als die Liebe glauben, oder, mit dem jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas wie mit dem gegenwärtigen Papst, an Gott als das Du, ohne das jedes Ich-Sein sinnlos, ja verloren bleibt.

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