Warum wir das Falsche essen:Kann Spuren von Menschen enthalten
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Verseuchte Rindermägen und menschliches Corned Beef: Der Kinofilm "Food Inc." erinnert an die Greuel der US-Nahrungsmittelindustrie.
Das Schockierendste an dem Dokumentarfilm "Food Inc." sind nicht die Bilder von Fleisch in allen seinen sonst verborgenen Inkarnationen: die bis an den Horizont reichenden Koppeln, wo die Rinder dicht an dicht in ihrer Scheiße stehen, ohne je einen Grashalm zu sehen; die weißliche Masse auf dem Fließband, die später als "Hamburger" gegessen wird; Hühner, die unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen; das Gemisch aus Knochen, Federn und Fett, zu dem sie kurz darauf gehäckselt werden, bevor sie als Nugget wiederauferstehen.
Viel schockierender ist eigentlich die Geschichte der radikalen Industrialisierung der amerikanischen Nahrungsmittelproduktion, die der Regisseur Robert Kenner da erzählt. Denn die hat fatale Nebenwirkungen: Umweltschäden in gigantischen Ausmaßen; Arbeiter, die in den Schlachtfabriken kaputtgehen; Bauern, die drangsaliert werden wie zuletzt zu Europas Feudalzeiten; und eine Nation der Fetten und Kranken.
Doch die Ära, in der die Amerikaner fröhlich wegmampften, was ihnen die Industrie vorsetzte, scheint zu Ende zu gehen. "Food Inc.", der in den USA gerade in die Kinos kam, ist das neueste Werk in einer ganze Reihe von Filmen und Büchern, die in den letzten Jahren sämtliche Aspekte der "nationalen Essstörung" Amerikas untersucht haben. Mit Kulturgeschichte, Kapitalismuskritik und dem Ringen um pragmatische Alternativen zum "Nutritional Industrial Complex" lieferten sie der amerikanischen Version der "Slow Food"-Bewegung, deren Einfluss in den Supermärkten und Restaurants seit Jahren ständig wächst, die argumentativen Grundlagen.
Eric Schlosser, der "Food, Inc." mitproduziert hat, war einer der Pioniere. In seinem Sachbuchbestseller "Fastfood Nation", das Richard Linklater vor zwei Jahren auch als Spielfilm inszenierte, erzählt er, wie ein paar kleine Hotdog-Brater aus Kalifornien das Fast Food erfanden und damit die Esskultur Amerikas und der ganzen Welt veränderten. Morgan Spurlock ergänzte Schlossers Buch mit Empirie. Für seinen Dokumentarfilm "Supersize Me" ernährte er sich einen Monat lang ausschließlich bei McDonald's. Schon nach zwei Wochen flehten ihn seine Ärzte an, den Wahnsinn der McDiät aufzugeben.
Doch der wichtigste Kopf der amerikanischen Ernährungsdebatte heißt Michael Pollan. "Food Inc." beruht in Teilen auf seinem Bestseller "The Omnivore's Dilemma" (der auf Deutsch erstaunlicherweise noch nicht erschienen ist). In diesem Buch rekonstruiert er unter anderem, wie nach dem Zweiten Weltkrieg eine Handvoll großer Konzerne die Produktion von Nahrung in ihre Hände nahm und so gründlich pervertierte, dass Steaks, Hühnerbrüste, selbst Lachs mit dem, was wir uns unter diesen Nahrungsmitteln und ihrer Herkunft vorstellen, nur noch den Namen teilen.
Man könnte glauben, der Siegeszug der amerikanischen Nahrungsmittelindustrie sei eine unvermeidliche Folge des Kapitalismus, von technologischem Fortschritt und Jahrzehnten dauerhaften Wohlstands. Dabei waren es jeweils politische Entscheidungen, die dazu führten, dass sich die Ernährung der Amerikaner in den letzten 50 Jahren mehr verändert hat als in den 1000 Jahren davor.
Explosiver Mais
Die dramatischsten Folgen hatte die großzügige Subventionierung von Mais, der zu Amerikas Agrarpflanze Nummer Eins und zum spottbilligen Universalrohstoff der Nahrungsindustrie wurde. Die Geschichte des Aufstiegs von "King Corn" (so der Titel eines weiteren Dokumentarfilms) hat Thrillerqualität. Riesige Überschüsse von Ammoniumnitrat, die nach dem Krieg nicht mehr für Sprengstoff gebraucht wurden und dann auf den Maisfeldern für explosives Wachstum sorgten, spielen dabei ebenso eine Rolle wie die 30 Millionen Tonnen Mais, die Amerika 1972 an Russland verkaufte. Ganz zu schweigen von der emsigen Arbeit der Lobbyisten.
Doch Mais, der notorische Wasser- und Nährstoffsauger, laugt nicht nur die Böden aus. Weniger bekannt ist, was passiert, wenn er aus Kostengründen und weil er so einfach zu transportieren ist, gegen jede biologische Vernunft als einzige Nahrung an Rinder verfüttert wird wie in den USA üblich: Ihre Mägen werden zu "Petrischalen für E.-coli-Bakterien", wie die Mutter eines Kindes in "Food Inc." sagt, das an einem kontaminierten Hamburger gestorben ist.
"Kevin's Law", ein nach dem Jungen benannter Gesetzesentwurf, der es erlauben würde, Fleischfabriken mit wiederholten E.-coli-Fällen zu schließen, wird in Washington seit Jahren blockiert. Und das obwohl die Rückrufaktionen für bakteriell verseuchtes Fleisch immer unvorstellbarere Ausmaße erreichen: 143 Millionen Pfund waren es in einem einzigen Fall im Februar 2008 - ein Hamburger für jeden Amerikaner. Das meiste davon war längst gegessen.
Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum unser Essen nur noch so aussieht wie Essen.
Konzerne, die "Menschen mit derselben Kaltblütigkeit behandeln wie die Tiere in ihren Schlachthäusern"; Privatdetektive und Spitzel, die die Patentrechte des Saatgut-Giganten Monsanto unter Farmern mit Stasi-Methoden durchsetzen; Illegale, die rechtlos in den Fleischfabriken ackern, bis sie - sofern es die Produktionsabläufe zulassen - von der Einwanderungsbehörde deportiert werden: all das erinnert fatal an Upton Sinclairs berühmten Roman "The Jungle" von 1906, in dem die horrenden Zustände in den Chicagoer Schlachthöfen dokumentiert sind.
Sinclairs Beschreibungen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen trafen damals auf ebenso taube Ohren wie seine Aufrufe zum sozialistischen Umsturz. Doch seine Berichte über TBC-infiziertes Schlachtvieh und Arbeiter, die zu Corned Beef zermahlen wurden, zwangen Präsident Theodore Roosevelt, eine Reform der Fleischindustrie zu initiieren.
Essen aus der Traumfabrik
Auch Pollan prangert die Allianz von Industrie und Politik auf Kosten ahnungsloser Esser an. Doch die Geschichte ist komplexer, wie er in seinem neuesten Buch "In Defense of Food" ("Lebens-Mittel", Goldmann Verlag München 2009, 7,99 Euro) schreibt. Weil viele Amerikaner ihre Ernährungsgewohnheiten in der Neuen Welt aufgaben, hatte das Land von Anfang an ein unsicheres Verhältnis zum Essen.
Dieser Umstand, gemeinsam mit einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben, trug dazu bei, dass statt Müttern und Großmüttern bald Biologen und Mediziner zu den Autoritäten in Sachen Ernährung wurden. Nicht um gute Küche ging es diesen jedoch, sondern um die Gesundheit des Einzelnen und der Nation, und wie sie sich durch die richtige Ernährung verbessern lässt - eine Idee, die natürlich weit in die Tiefen europäischer Humanwissenschaften und ihrer Reform- und Optimierungsutopien zurückreicht.
Essen war nach diesem radikalen Paradigmenwechsels zum bloßen Träger von Nährstoffen reduziert. Doch welche Nahrungsmittel gesund sind, welche schädlich, weiß bis heute niemand so genau. Die Ernährungs-Doktrin galt jeweils ein paar Jahre, dann wurde sie durch eine neue abgelöst. Mal war Fett, mal waren Kohlehydrate Gift. Dann hieß es, zu viel Proteine seien tödlich. Ungesättigte Fettsäuren, Vitamine und Antioxidationsmittel wurden empfohlen, dann wieder vor ihnen gewarnt.
Der Nahrungsmittelindustrie öffnete die nie zur Ruhe kommende Debatte eine willkommene Bresche. Der Bauer war zum bloßen Zulieferer für Rohmaterial degradiert, Ess- und Kochtraditionen gerieten in Vergessenheit, und für jede neue Essmode schuf die Industrie neue Nahrungsmittel: fettfreien Joghurt, Cola ohne Zucker, Corn Flakes, die dünn machen, Schinken aus Mais, Käse aus Soja. Bis das Redesign auch der schlichtesten unter den 40 000 Produkten im durchschnittlichen amerikanischen Supermarkt zur Regel wurde.
"Das meiste von dem, was wir heute konsumieren, lässt sich strenggenommen gar nicht mehr als Essen bezeichnen", so Pollan. Er beschreibt Amerikas Nahrungsindustrie als eine Art zweite Traumfabrik, die mit den richtigen Geschmacks- und Farbstoffen, mit täuschend echter Konsistenz und mit dem Werbezierat aus idyllischen Farmen und Rindern im Präriegras eine Fiktion vom Essen verkauft, die mit der Realität des Produkts nicht das geringste zu tun hat.
Wie Geiseln in monströsen Körpern
Die Folgen lassen sich an Millionen von Amerikanern beobachten, die intellektuell damit überfordert sind, die Täuschungs- und Verführungsstrategien zu durchschauen, oder sich die gesünderen Alternativen nicht leisten können. Sie leben wie Geiseln in ihren monströsen Körpern. Doch auch die Dünnen sind betroffen - zumindest psychologisch. Essen ist nirgends so sehr wie in den USA zu einem Feld der Verwirrung, Neurosen und Konflikte geworden.
Die positive Konsequenz daraus ist ein phänomenaler Boom der Biobranche in den USA, den auch "Food Inc." euphorisch feiert: Farmer aus Pennsylvania verkaufen in Manhattan Äpfel, Quark und Eier. "Locavores" eröffnen Restaurants, die ausschließlich Essen aus einem Umkreis von 150 Meilen verwenden; und Bio-Supermarktketten wie Whole Foods oder Trader Joe's (letztere gehört den deutschen Aldi-Brüdern) expandieren mit atemberaubender Geschwindigkeit.
Innerhalb der Biobewegung toben die auch in Europa bekannten Konflikte um die richtige Mischung aus Pragmatik und Orthodoxie nur um so heftiger. Auch dieser Weg führt also nicht zu der Entspanntheit, mit der in Ländern wie Frankreich oder Italien oft noch heute gut und gesund gegessen wird. Michael Pollan versucht deshalb, mit dem denkbar einfachsten Rat auszuhelfen: "Iss Essen", schreibt er. Also keine der gentechnisch oder chemisch erzeugten Ersatzprodukte. "Nicht zu viel. Vor allem Pflanzen."