Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag von Katja Eichinger:"Wir leben heute alle auf dem Planeten Warhol"

Lesezeit: 3 min

Andys unwiderstehlicher Cocktail aus Sex, Glamour, Celebrity, Tod und Voyeurismus: Filmproduzentin und Autorin Katja Eichinger erinnert sich an das Münchner Filmfest 1971.

Von Katja Eichinger

Bei der Münchner Premiere von Andy Warhols Film Trash 1971 stürmten begeisterte Fans auf Warhols Limousine zu, rüttelten an dem Auto und schrien "Andy! Andy!" Im Jahr zuvor war Warhols Film Flesh, in dem der Warhol-Superstar Joe Dallesandro einen New Yorker Stricher spielt, der vierterfolgreichste Film in den deutschen Kinocharts. München, ja ganz West-Deutschland war der Warholmania verfallen - sprich einer Euphorie, hervorgerufen durch Warhols unwiderstehlichem Cocktail aus Sex, Glamour, Celebrity, Tod und Voyeurismus.

Dass Warhols Zelebrierung und gleichzeitige Hinterfragung des Amerikanischen Traums in einem Land Widerhall fand, das sich selbst an der Schnittstelle zwischen Kapitalismus und real gelebtem Sozialismus befand, ist verständlich. Ebenso dass Warhols Superstars, mit denen er Stricher, Junkies und Transvestiten zu Ikonen erklärte, für die Kinder der Auschwitz-Generation befreiend wirkten.

So nachvollziehbar es auch ist, dass Andy Warhol (1928 - 1987) im Deutschland der 70er als kindlicher Kaiser von Pop-Phantasien gefeiert wurde - der volle Umfang von Warhols Bedeutung als fast schon prophetischer Visionär lässt sich erst heute erkennen.

Das für mich immer wieder Erstaunliche an Warhol ist, dass er zu einer Zeit, als die Konsumgesellschaft noch am Anfang stand, deren Essenz erkannte und sie sowohl in seinen Bildern, seinen Filmen sowie in seiner Haltung als Künstler auf den Punkt brachte. Wie sonst nur Picasso hat er die westliche Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts geprägt. Vor allem aber hat er wie kein anderer die Auswirkungen der medialen beziehungsweise digitalen Revolution auf unsere ästhetische und emotionale Realität vorhergesehen. Nicht nur seine Bilder, sondern besonders auch seine Filme zeigen: Wir leben heute alle auf dem Planeten Warhol.

Sein fast fünfeinhalb Stunden langer Film "Sleep" sprengte die Grenzen des Kinos

Da Warhol seine Filme Mitte der 70er-Jahre aus der Öffentlichkeit zurück zog, wird sein enormes filmisches Werk heute nur selten gesehen. Allein in den 60ern produzierte Warhol mehr als 650 Filme von unterschiedlichster Länge, Form und Inhalt. Sein fast fünfeinhalb Stunden langer Film Sleep, in dem er den Beat-Poeten John Giorno beim Schlafen filmte, sprengte ebenso die Grenzen dessen, was allgemein als "Kino" betrachtet wird wie seine hundertfach erstellten "Screen Tests," bei denen die Porträtierten minutenlang möglichst bewegungslos in die Kamera schauen.

Die "Screen Tests" sind quasi das Ur-Selfie. Sie sind Meditationen über das Spannungsverhältnis zwischen Persona und Identität im medialen Raum, hinter denen genau wie bei jedem Selfie die Verzweiflung des Narcissus ob seines unerreichbaren Antlitzes mitschwingt. Warhols Superstars - seien es nun Edie Sedgwick, Joe Dallesandro, Candy Darling, Baby Jane oder Ultra Violet - kann man als Vorläufer der YouTube-Stars betrachten. Genau wie die YouTuber von heute bedienten sie mit ihrem Exhibitionismus und ihrer Bereitschaft, das Intime ebenso wie das Banale zu teilen, unseren Voyeurismus. Warhols Kamera wird oft als sadistisch bezeichnet, agiert jedoch nicht anders als das Auge des Internets.

Auch wurde Warhol immer wieder vorgeworfen, seine Filme seien "schlecht gemacht" oder "dilettantisch." Doch die Imperfektion war von Warhol beabsichtigt. Sie erzeugt eine Verletzlichkeit und Unmittelbarkeit. Im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, in dem mit Hilfe von Spezialeffekten hyperreale Welten auf Bildschirmen und Leinwänden geschaffen werden können, ist es eben genau diese Verwundbarkeit und Intimität, die Laien-Videos auf YouTube so faszinierend machen.

Warhols Prophezeiung "in der Zukunft wird jeder für 15 Minuten berühmt sein" war nie relevanter als im Internetzeitalter, in dem Menschen wie Kim Kardashian bei einem Armenien-Besuch wie Staatsgäste empfangen werden und eine Frau, die sich dabei filmt, wie sie Ferrero-Überraschungseier auspackt, auf Millionen von Fans blicken kann. Andy Warhol hat unsere voyeuristische Lust am Trivialen, am Unvollkommenen, am Kaputten erkannt und materialisiert. Sein Film Chelsea Girls, der erste Avantgardefilm, der weitreichenden kommerziellen Erfolg erzielte, ist ein Vorbote des Reality TV. Chelsea Girls ist ein mehr als dreistündiger Split-Screen-Film mit improvisierten Dialogen zwischen verschiedenen Warhol-Superstars und wie diese sich als Bewohner des heruntergekommenen Chelsea Hotels streiten, Drogen nehmen, tratschen und ihrem Leben nachgehen.

"Sag 'ja' zu allem!", habe ihm Warhol gelehrt, so das ehemalige Factory-Mitglied Glenn O'Brien, der die Warhol-Hommage für das Münchner Filmfest kuratiert hat. Außerdem habe Warhol einen nie kritisiert, sondern einen immer nur in dem bestärkt, was ihm gefallen habe. "Gee, that's great!" sei sein Lieblingssatz gewesen. Dieser Positivismus hätte sich perfekt auf soziale Netzwerke wie Instagram oder Facebook übertragen, ebenso wie Warhols Angewohnheit, alles zu fotografieren beziehungsweise sich mit Prominenten fotografieren zu lassen.

Warhols Relevanz zu unserer heutigen Kultur geht natürlich noch viel weiter und tiefer, als ich es hier in der Kürze aufzeichnen kann. Durch die Kooperation zwischen dem Filmfest München und dem Museum Brandhorst, das im Rahmen von Yes!Yes!Yes! Warholmania in Munich erstmals seine bedeutende Warhol-Sammlung als Ganzes zeigt, werden wir die Bandbreite von Warhols Werk erleben und auf uns wirken lassen können. Ich kann es kaum erwarten, Warhols Siebdruck-Portraits in Verbindung zu seinen filmischen Portraits zu sehen oder Bilder wie seine ironisierenden Piss Paintings im Kontext eines Films wie Vinyl, mit dem Warhol einen Pionierfilm des Queer Cinema schuf.

Ins Werk Warhols einzutauchen, ist eine Reise zurück in die Zukunft. Und was auch immer Sie am Ende sonst noch über Warhol denken mögen, es wird garantiert ein cooler Trip.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2531963
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.06.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.