Walter Jens zum 90.:Wortführer für das Gute

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Walter Jens widmete sich bereits im Studium der Germanistik und den alten Sprachen, für die er bis ins Alter eine Leidenschaft hegte. Aufgrund seiner Demenzerkrankung zog er sich 2004 aus der Öffentlichkeit zurück. (Foto: dpa)

Ein Leben im Zeichen der Sprache. Walter Jens zeigte den Deutschen, dass die Rhetorik nicht nur Worteschinderei ist, sondern zu Demokratie und Selbstherrschaft gehört. Bis ins hohe Alter blieb er eine öffentliche Person - ein Intellektueller, der sich einmischte.

Von Stephan Speicher

Bis in die achtziger Jahre hinein war Walter Jens eine bestimmende Figur des literarischen, ja mehr noch, des intellektuellen und politischen Lebens in Deutschland. Seine Geltung konnte sich durchaus mit der Marcel Reich-Ranickis messen, mit dem er eng befreundet war. Wie dieser packte er sein Publikum mit dem unbedingten Einsatz der eigenen Person.

Die hagere, leicht vornübergebeugte Gestalt im korrekten, aber meist etwas verschossenen Anzug, das zerfurchte Gesicht mit den zurückgekämmten Haaren, durch die immer wieder die Hand fahren musste, die heisere, etwas gequetschte Stimme (eine Folge seines schweren Asthmas möglicherweise) - Walter Jens, der Rhetoriker, wusste sehr genau, dass zur Redekunst auch der Vortrag gehört, die pronuntiatio. Wo er auftrat, waren die Säle voll, auch das Fernsehen bediente sich gelegentlich der kunstvoll gezügelten Dramatik seiner Erscheinung.

Die Entwicklung zum repräsentativen Intellektuellen hatte begonnen mit der Wahl des Studienfachs. Jens, Jahrgang 1923, aber seines Asthmas wegen "nicht kriegsverwendungsfähig", studierte Klassische Philologie und Germanistik, in Freiburg wurde er mit einer Arbeit über Sophokles 1944 promoviert, 1949 war er schon habilitiert mit einer Arbeit über Tacitus und die Freiheit.

Der junge Jens muss eine strahlende Erscheinung gewesen sein, ein hervorragender Philologe und zugleich ein Schriftsteller, der mit Erzählungen und Romanen auf sich aufmerksam machte. "Nein. Die Welt der Angeklagten", unter dem starken Einfluss Kafkas geschrieben, hatte auch in Frankreich Erfolg.

Doch Jens spürte selbst, dass seine belletristischen Versuche respektabel waren, aber nicht mehr. Immer stärker trat er als Kritiker vor, in FAZ und Zeit und, mit bewunderter und gelegentlich gehasster Kraft, in der Gruppe 47. Daneben aber blieb sein Ort die Universität. In Tübingen erhielt er eine Professur für Klassische Philologie, 1963 wurde ihm ein Lehrstuhl für allgemeine Rhetorik eingerichtet.

Gelehrter als Festredner

Und das war es, worauf dies Leben zielte. Die Deutschen neigen dazu, die Rhetorik geringzuschätzen, als eine Kiste von Tricks und Kniffen, als Worteschinderei. Jens zeigte ihnen, dass öffentliche Rede zu Demokratie und Selbstherrschaft gehört. Und er hatte Erfolg. Man wundert sich heute, wie breit das Interesse an ihm, dem Gelehrten als Festredner, war. Ob Nahverkehr oder Deutscher Fußballbund, Jens war der Mann, der zur Öffentlichkeit sprach. Qualifiziert war er durch literarische Bildung und sprachliche Kraft, er war der Intellektuelle, der sich einmischt, der weder vor Obrigkeit noch Experten zurückzuckt.

Denn Jens hatte ein Anliegen, das ihn befeuerte. Er war links, er war Christ und die "Verschwisterung von Christentum und Sozialismus" war es, die er mit seinen Mitteln fördern wollte. Zum 60. Geburtstag schrieb Wolfgang Koeppen: "Walter Jens hat beim Studium der alten Sprachen die deutsche Grammatik für des Menschen Würde gewonnen, eine Waffe, einzusetzen für Recht und Freiheit, für Gott und die Götter und die Barmherzigkeit. Jens ist der Rhetor deutscher Demokratie, unserer Friedensliebe, der Prediger der Vernunft, der Architekt am Prinzip Weisheit, ein gütiger und kritischer Betrachter der Literatur heute." In jedem Satz spürt man die Welt von gestern.

Jens sprach aus der Universität heraus, die Tübinger waren stolz darauf, einen solchen Mann unter sich zu wissen. Dass ein Philologe so große Wirkung ausüben konnte, weit über sein Fach hinaus, das spricht von einer Geltung der Literatur, die verloren gegangen ist wie der Glaube, dass die Grammatik eine Waffe für das Gute sei.

Autor viel gelesener Biografien

Jens allerdings ließ es nicht bei Worten bewenden. Wahrscheinlich war er nie bekannter als 1983, als er an der Blockade bei Mutlangen gegen die Nachrüstung teilnahm und sich später vor Gericht mit Aplomb verteidigte. Als die Öffentlichkeit weniger nach seinen aktuellen Interventionen verlangte, schrieb er zusammen mit seiner Frau viel gelesene Biografien Katja Manns und Hedwig Pringsheims.

Und selbst im Alter blieb er eine öffentliche Person. Seit 2004 zeigte sich eine zunehmende Altersdemenz. Er zog sich zurück, aber an seinem Schicksal las die Gesellschaft ab, dass auch der nicht mehr Vernünftige noch Würde hat. Es hätte ihm, der an diesem Freitag neunzig Jahre wird, wohl gefallen.

© SZ vom 08.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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