Süddeutsche Zeitung

Walter Benjamin: Rechte werden frei:Zugriff auf einen Heiligen

Im September 1940 nahm sich Walter Benjamin auf der Flucht vor den Deutschen das Leben. Zum 70. Todestag verliert nun Suhrkamp die Rechte an den Schriften des Literaturkritikers und Philosophen.

Lothar Müller

Portbou an der Costa Brava war einst Endstation von Walter Benjamin. Der deutsche Autor und Gelehrte hatte sich dort in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 auf der Flucht vor den nach Frankreich einmarschierten Deutschen das Leben genommen. An diesem Wochenende findet dort ein internationales Kolloquium zu seinem 70. Todestag statt.

Walter Benjamin war, als er starb, seit sieben Jahren Exilant und dem breiten Publikum unbekannt. Zwar hatte er sich als Literaturkritiker, Übersetzer und Philosoph in der Weimarer Republik einen gewissen Namen gemacht. Aber anders als von Joseph Roth oder Lion Feuchtwanger gab es von ihm keine erfolgreichen Bücher in Exilverlagen. Sein Ruhm ist im wesentlichen Nachruhm.

Als 1994 ihm zu Ehren in Portbou das vom israelischen Künstler gestaltete Denkmal "Passagen" eingeweiht wurde, hatte der Nachruhm längst internationale Dimensionen angenommen. Seine Theorie über das "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" und seine Aufsätze über den Film wurden Klassiker der Medientheorie, seine "Berliner Kindheit um 1900" ging in den literarischen Kanon ein. Und da er dem deutschen Judentum entstammte, wurde seine Biografie zum Symbol für die Austreibung des jüdischen Geistes aus Deutschland. Längst ist Walter Benjamin auf dem Wege, auf dem ihm Franz Kafka, über den er früh schrieb, vorausging: Er gehört zu den säkularen Heiligen, die nach 1945 die 1933 untergegangene Welt repräsentieren.

Nun, mit seinem 70. Todestag, werden nach geltendem Urheberrecht die Rechte am Werk Walter Benjamins frei. Durch diese Zäsur endet die exklusive Bindung seines Werkes an den Suhrkamp Verlag. Die zweibändige Ausgabe seiner Schriften, die 1955 auf Initiative seiner Freunde Theodor W. Adorno und Gershom Scholem im Suhrkamp Verlag erschien, war die Keimzelle des Nachruhms von Walter Benjamin. Die von Rolf Tiedemann betreute Ausgabe der "Gesammelten Schriften", die seit 1972 erschien, hat das Wachstum des Nachruhms entscheidend befördert. Wer auch immer den 1973 von George Steiner geprägten Begriff "Suhrkamp-Kultur" benutzte, bezog darin auch Walter Benjamin ein.

Stets sind die auslaufenden Urheberrechte prominenter Autoren von großen historisch-kritischen Werkausgaben begleitet. Mit ihnen demonstrieren die Verlage, dass ihre Zuständigkeit für die Werke nicht 70 Jahre nach dem Tod der Autoren erlischt. Sie wollen die symbolische Verbindung zwischen dem Namen des Autors und dem des Verlages über das Erlöschen des Urheberrechts hinaus wahren. So steht dem Freiwerden der Kafka-Rechte im Jahr 1994 die große Kafka-Edition bei S. Fischer gegenüber. Und wie inzwischen Kafka auch bei Suhrkamp verlegt wird, hat nun S. Fischer ein Taschenbuch angekündigt, das Walter Benjamins "Einbahnstraße" und "Berliner Kindheit um 1900" im Doppelpack für nur acht Euro enthält. So überschreiten Verwertungsketten, die zuvor innerhalb eines Verlages für die Mehrfachverbreitung der kanonischen Autoren sorgen, nach dem Auslaufen des Urheberrechtes die Verlagsgrenzen.

Die große Werkausgabe, sagt Suhrkamp-Geschäftsführer Thomas Sparr, ist "der letzte Dienst" des Verlages an seinem Autor: "Der merkantile Verlust sollte durch einen editorischen Gewinn aufgewogen werden." Seit 2008 erscheint im Suhrkamp Verlag eine neue historisch-kritische Ausgabe der Werke Walter Benjamins.

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Quelle:
SZ vom 24.09.2010/ls
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