Walter Benjamin:Bücher als Bettschatz

Lesezeit: 2 min

Der Leser Walter Benjamin war immer ein Kind, das Bücher wie eine verbotene Frucht genoss. In Solingen wurde seine Bibliothek rekonstruiert. Die Ausstellung ist einen Umweg wert.

Willi Winkler

Nie, niemals sollte er an den "Gespenster-Hoffmann" gehen, aber der Knabe hielt sich natürlich nicht an das Verbot. "Vormittags konnte es sich treffen", berichtet Walter Benjamin in der "Berliner Kindheit", "dass ich von der Schule schon zurück war, ehe noch die Mutter aus der Stadt, mein Vater aus dem Geschäft nach Hause gekommen waren. An solchen Tagen ging ich ohne die geringste Zeitversäumnis an den Bücherschrank." Ganz gleich, ob es sich um grell illustrierte Kinderbücher, eine Schrift von Rosa Luxemburg oder die Sittengeschichte von Eduard Fuchs handelte, der Leser Benjamin blieb immer ein Kind, das Bücher wie eine verbotene Frucht genoss. Wenn es nicht ausnahmsweise Asja Lacis oder auf andre Weise Brecht gelang, die Mauern einzureißen, lebte Benjamin wie ein Einsiedler in seiner Bibliothek. Am Ende jedoch, als die Nazis kamen und er fliehen musste, bot auch sie ihm keinen Schutz mehr.

"Die Unsterbilchkeit der Sterne" heißt die Ausstellung - es handelt sich nicht um die Bände, in denen Benjamin selber gelesen hätte, aber es sind zeitgenössische und zum Teil äußerst seltene Ausgaben. (Foto: dpa)

Der Antiquar Herbert Blank hat in jahrelanger Arbeit die zweimal verloren gegangene Bibliothek Benjamins rekonstruiert. Es handelt sich nicht um die Bände, in denen Benjamin selber gelesen hätte, aber es sind zeitgenössische und zum Teil äußerst seltene Ausgaben. Diese neue Bibliothek steht in der Ausstellung "Die Unsterblichkeit der Sterne" im Kunstmuseum Baden in Solingen und ist, wie es in alten Reiseführern hieß, einen Umweg wert.

Nur hier, auf der Grenze von Wuppertal und Solingen, wo nicht bloß Else Lasker-Schüler, sondern auch Adolf Eichmann zur Welt kam, finden sich nebeneinander Benjamins Dissertation über den "Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" und die Erstausgabe von Johann Jakob Bachofens "Mutterrecht". Um diese Büchersammlung, die den marxistischen Grundschriften das gleiche Recht wie Chestertons Krimis einräumt, ist eine Ausstellung gruppiert, die einen sehr weiten Bogen von den Caprichos Francisco de Goyas über den Holocaust zu Vaclav Havel spannt, dem Dichter, der als strahlender Freiheitsheld aus dem Gefängnis kam und zum Präsidenten der Tschechoslowakei wurde.

Diese märchenhafte Vorstellung, dass Dichter doch die besseren Regenten wären, hat sich allein in Havel verwirklicht und kontrastiert aufs Wundersamste mit Goyas "Schlaf der Vernunft", der hier wieder seine Ungeheuer gebiert. In einem selten gezeigten Selbstporträt lächelt Goya angemessen weltfremd und kunstbefangen. Daneben ist aber auch eine Garrottierung zu sehen, die ein Goya-Nachfolger gemalt hat und die kaum weniger grausam ist als die Kriegsgräuel des Meisters.

Ein weiteres Hauptstück bildet die pragerdeutsche Literatur, deren Wiederentdeckung sich dem Sammeleifer des früheren Stern-Reporters Jürgen Serke verdankt. Er war es, der Ende der siebziger Jahre auf die "verbrannten Dichter" aufmerksam gemacht und in der Reihe der "Böhmischen Dörfer" zur Wiederentdeckung der deutsch-jüdischen Literatur aus Prag im Umkreis von Franz Kafka und Max Brod beigetragen hat.

Bücher in Vitrinen sind das Gegenteil von dem, was der Büchersammler Walter Benjamin schätzte, aber so werden sie wenigstens bewahrt, und bewahrt wird auch die Erinnerung an eine längst verlorene Zeit, als das Lesen nicht nur verboten war, sondern auch noch geholfen hat - als Bücher der beste Bettschatz waren, unverzichtbar als Lebenshilfe. Von Aragons "Paysan de Paris" habe er "abends im Bett nie mehr als zwei bis drei Seiten lesen" können, schrieb Benjamin 1935 an den gleichgestimmten Adorno, "weil mein Herzklopfen davon so stark wurde, dass ich das Buch aus der Hand legen musste".

"Die Unsterblichkeit der Sterne" im Museum Baden in Solingen bis 5. Dezember. Der Katalog enthält das Verzeichnis der Bücher Walter Benjamins.

© SZ vom 12.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: