Walter Benjamins Nachlass:Bitte bleiben Sie

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Auf der Rückseite seiner Manuskripte skizzierte Walter Benjamin Briefe und Entwürfe. (Foto: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv © Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur)

Einige Entwürfe von Walter Benjamin und warum abgebrochene, nie verschickte Briefe die melancholischsten Dokumente der Literaturarchive sind.

Von Lothar Müller

Schon, dass er geschrieben wurde, macht einen Brief bedeutsam. Aber er unterschreitet seine Möglichkeiten, wenn er den Weg zum Adressaten nicht findet. Sehr interessante Gebilde sind in einer hoch entwickelten Briefkultur die nicht abgeschickten Briefe und Briefentwürfe. Sie sind an verschiedenen Schwellen gescheitert, konnten sich entweder von den Schreibern nicht lösen oder wurden gar nicht erst zu Ende geschrieben. Von Wolken der Ungewissheit sind sie umgeben. Wenn die Papierkörbe sprechen könnten, hätten sie einiges mitzuteilen. Wir kennen allenfalls diejenigen nicht abgeschickten Briefe und Briefentwürfe, die aufbewahrt wurden und in Nachlässe eingingen, sei es im Familienarchiv oder in einem Literaturarchiv. Und schon beginnt das Fragen. Warum wurden sie wohl aufgehoben? Warum nicht abgeschickt? Warum abgebrochen?

Der Schriftsteller Walter Benjamin, geboren 1892 in Berlin, gestorben 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in den Pyrenäen, stellte große Ansprüche an die Briefe, die er schrieb. Auch wo sie einen leichten Ton anschlugen, unterlagen sie dem Stilbewusstsein ihres Autors. Sie sollten auf der Höhe seines Werks sein, sie dienten der Sicherung und Verbreitung, aber auch der Konzeption dieses Werks, dem intellektuellen Austausch, der Vor- und Nachbereitung von Gesprächen, der Regelung der privaten Verhältnisse, nicht zuletzt seiner Beziehungen zu Frauen, manchmal wurden sie dabei zu Kassibern. Sie betrieben Literaturpolitik und waren zumal in den Jahren des Exils unverzichtbar für die Selbstbehauptung und Existenzsicherung. Seit zwanzig Jahren ist die große sechsbändige Ausgabe der Briefe Walter Benjamins abgeschlossen, ihr Kommentar ist Biografie und Werkkommentar zugleich. Manche nicht abgeschickte Briefe sind darin enthalten, nicht aber die etwa 200 Briefentwürfe, die im Nachlass erhalten sind. Sie wurden auf Manuskriptrückseiten geschrieben, lassen oft nicht erkennen, wann genau und an welche Adressaten sie gerichtet waren, sind denkbar weit von Reinschriften entfernt, manchmal kaum lesbar. Etwa zwanzig von ihnen hat nun Ursula Marx, Archivarin in der Berliner Akademie der Künste, versammelt und mit Erläuterungen und Kommentaren, in vielen Fällen auch mit Faksimiles versehen.

Der schmale Band ist nicht nur für Benjamin-Philologen interessant, die diesen oder jenen Entwurf mit einem abgeschickten Brief vergleichen, Andeutungen auf Werke und Personen oder Hinweisen auf Publikationsabsichten nachgehen können. Briefentwürfe erschöpfen sich nicht in ihrem Sachgehalt. So wenig wie Fragmente an vollendeten Werken lassen sie sich an den zu Ende geschrieben Briefen messen. Sie laden dazu ein, für sich gelesen zu werden, auf die Abbruchkanten hin, die Streichungen, die Rätsel, die sie aufgeben. Mitten im Wort bricht ein Briefentwurf an die Schwiegereltern ab, geschrieben vor dem Sommer 1917. Er sieht sehr ordentlich aus, ganz ohne Streichungen. Anders der nahezu vollständig durchgestrichene Brief vom Juli 1936, da war die ökonomische Lage Benjamins bereits prekär, sie steckt im Durchstrichenen, in der Bitte an den unbekannten Adressaten, bei der "weitern Erhaltung meines Arbeitsvermögens" behilflich zu sein.

Fast ganz gestrichener Briefentwurf Walter Benjamins aus dem Archiv. (Foto: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv © Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur)

Wie in den Stil eines Autors kann man sich auch in seine Streichungstechnik einlesen, hier zum Beispiel in die verschiedenen Varianten des großen "X", mit dem in den Faksimiles den Entwürfen das Urteil ausgefertigt wird. Nicht getroffen hat ein solches "X" den Entwurf des hochdiplomatischen ersten Briefes an Hugo von Hofmannsthal im November 1923, dessen abgeschickte Version verschollen ist. Wohl aber den an Franz Hessel gerichteten Entwurf, den Benjamin Ende 1927 auf Korsika geschrieben hat. Eine große Unzufriedenheit scheint ihn von Berlin dorthin getrieben zu haben. Der Rowohlt-Verlag, der damals in Berlin residierte, spielte dabei offenkundig eine große Rolle. Er hatte trotz geschlossener Verträge die Publikation von Arbeiten Benjamins immer wieder verzögert. Wie hätte der Rowohlt-Lektor Hessel auf den Wunsch seines Freundes reagiert, es möge ihm "eine stille, feine aber messerscharfe Opposition gegen den tristen Ullsteingeist, der bei Rowohlt einzieht" glücken? Die Frage liegt nahe, ob es Hessel war, der dafür sorgte, dass 1928 bei Rowohlt gleich zwei Bücher Walter Benjamins erschienen, "Ursprung des deutschen Trauerspiels" und "Einbahnstraße".

Hartnäckig heftet sich die Einbildungskraft an andere Zeilen des Entwurfs. Sie handeln vom Glücksspieler Benjamin, der in Monte Carlo "ganz niedlich" gewonnen hat. Die vollkommene Abkehr von Berlin, Rowohlt und der Sorge ums Werk war dafür die Voraussetzung: "ich spielte mit einer Seelenruhe wie sie mein von Berlin her gespeister Gram mir nicht gelassen hätte".

Walter Benjamin: Briefe im Entwurf. Herausgegeben von Ursula Marx. Mit 11 farbigen Abbildungen. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2020. 40 Seiten, 15 Euro. (Foto: N/A)

Solche Details teilen Fragmente mit abgeschickten Briefen. Aber eben nicht, dass sie ihren Adressaten unter die Augen kommen. Wenn es so etwas gibt wie ein spezifisches Gewicht von Briefentwürfen, dann wird es durch die Unmöglichkeit einer Antwort erhöht, vor allem dort, wo die Hinwendung ans Gegenüber am radikalsten ist. Drei Jahre bevor er ihr auf Ibiza einen - abgelehnten - Heiratsantrag machte, entwarf Benjamin 1929 an die Deutschrussin Olga Parem folgende Zeilen, ohne jede Anrede: "Ihre Stimme ist wie ein Lasso, das Sie mir umwerfen, und von dem ich mich den ganzen Abend nicht losmachen kann. Wenn sie fortgehen, schneidet sie mich ins Fleisch. Vom ersten Augenblick, wo Sie ins Zimmer treten, fällt mir die ganze Zeit nichts ein als drei Worte: ,Bitte bleiben Sie.' Werden wir uns noch sehen, wenn Sie einen Tuchmantel tragen? Und vorher - werde ich an den grauen Pelzmantel noch ein paar gute Erinnerungen haben?

Es ist nach drei Uhr nachts; ich schlafe noch nicht. Ihre Stimme schwillt in mir auf und ab. Ich schlafe gleich ein. Seit 2 ½ Tagen schl (gestrichen) esse ich kaum. Ich habe herausgefunden, dass Sie tausendmal klüger sind als Sie tun. Ihre Schrift da oben ist eine hingehaltene ausgestreckte Hand die sich zurückziehen will sobald man nach ihr greift." Kein großes "X" trifft den gesamten Entwurf, wohl aber ein kleines diesen letzten Abschnitt. Der Entwurf steht mitten in Aufzeichnungen und Exzerpten in einem blauen Notizheft unter dem einzigen Fremdeintrag, den Benjamin darin zugelassen hat. Er stammt von Olga Parem. Ihre Handschrift wird im Entwurf zur Hand.

Briefentwürfe sind von Briefen durch einen Abgrund getrennt. Nie finden sie die Leser, die sie suchten. Erst wenn alle Briefe und hinterlassenen Manuskripte ediert sind, verlassen sie als letzte die Literaturarchive. Manchmal erzählen sie in wenigen Zeilen viel. So ist es hier.

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