Wales:Gegen den Rest der Welt

Einst beherrschten die Briten 40 Prozent der Welt. Kein Wunder, dass diese Zeit bis heute nostalgisch verklärt wird - und dass die Brexit-Befürworter diese Nostalgie gnadenlos instrumentalisiert haben, erklärt Ben Rawlence.

Interview von Lukas Latz

SZ: Nach dem Brexit gab es angeblich einen Anstieg rassistisch motivierter Straftaten. Stimmt das?

Ben Rawlence: Ja, das hat auch hier in Wales stark zugenommen. Ich lebe in einer sehr ländlichen Gegend, wo es überhaupt keine Zuwanderer gibt. Über Migration gab es nie eine politische Debatte, weil es sie ja faktisch nie gab. Jetzt plötzlich will hier jeder darüber reden. Ich denke nicht, dass Rassismus nur durch wirtschaftliche Missstände entsteht. Das geht tiefer. Es hat viel mit Geschichte zu tun, mit der Art, wie Menschen ihre Identität konstruieren.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Referendum und einer nostalgischen Sehnsucht nach dem Empire?

Die Kampagne basierte auf einem in die Vergangenheit zurückgreifenden Slogan: "Take Back Control". Das suggeriert, dass wir diese Kontrolle früher hatten. Diese souveräne Vergangenheit ist natürlich ein Mythos - der aber sehr wirkmächtig und bis heute Teil der britischen Identität ist.

Und die Vote-Leave-Kampagne hat diesen Mythos instrumentalisiert?

Absolut, es gibt viele Beispiele dafür, wie die Brexit-Befürworter unter den Politikern an die einstige Größe des Empires erinnerten. Etliche Politiker-Zitate aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert wurden verwendet. Besonders oft wurde ein Churchill-Satz zitiert: "Wenn wir zwischen Europa und dem offenen Meer wählen müssen, werden wir immer das offene Meer wählen." Es wurde auch daran erinnert, wie Politiker aus der Zeit des Empires Fragen der Annäherung an Europa diskutierten. Ein Problem ist wohl, dass Großbritannien die Geschichte des Imperialismus noch nicht wirklich aufgearbeitet hat und immer noch verklärt. So eine Auseinandersetzung mit der Geschichte, wie es sie in Deutschland gab, gab es bei uns nie. Deutschland zog seine Lehren aus der Vergangenheit und hat den Staat und die Verfassung reformiert. Unser System ist unverändert.

Großbritannien hat ja auch nicht zwei Weltkriege angezettelt.

Es geht ja nicht nur um eine Verfassungsreform. Die Namen vieler Ämter, Straßen und Institutionen haben sich seit den Zeiten des Empires nicht geändert - weil sie bis heute an die einstige Größe erinnern. Die Briten beherrschten einmal vierzig Prozent der Welt, kein Wunder, dass wir uns nur zu gern an das Empire erinnern. Das ist nun mal die einzige Vergangenheit, die wir nostalgisch verklären können. Diese Nostalgie ist sehr machtvoll.

Überschätzen Sie die Kraft der Nostalgie nicht doch ein bisschen?

Na ja, es ist sehr schwierig für Europäer, die niemals so viele Kolonien hatten, das zu verstehen. Die Prämisse, auf der das Empire beruhte, war eine Idee von britischer Überlegenheit, von ethnischer, wissenschaftlicher, politischer und moralischer Überlegenheit. Für die Mittelklasse und die Eliten war das Empire elementarer Bestandteil ihrer Identität. Bis in die 1950erJahre herrschte in diesen Kreisen die Annahme vor, dass Briten anderen Völkern überlegen sind. Das änderte sich erst langsam in den Sechzigerjahren im Zuge der Dekolonisierung. Das ist alles noch nicht so lange her. Bis heute lebt hier eine große Gruppe von Menschen, Menschen wie mein Vater, denen in ihrer Jugend eingeimpft wurde, dass sie als Briten dem Rest der Welt überlegen sind. Das ist ein großes Problem.

Ben Rawlence, geboren 1974, lebt in den Black Mountains in Wales. Auf Deutsch erschien von ihm "Stadt der Verlorenen" (Nagel und Kimche, 2015).

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