Konrad Adenauers privat geäußerte Verachtung der Wähler ist bekannt. Heute wird man diese autokratische Arroganz ablehnen, doch in der jüngsten Zeit, seit dem Aufstieg Donald Trumps und dem Wirken echter Autokraten wie Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan, kann es einem bei Gespräch mit Freunden passieren, dass einer sagt: "Man sollte den Dummköpfen, die solchen Figuren nachlaufen, das Wahlrecht entziehen!"
Peinliches Schweigen stellt sich ein, aber auch das Gefühl, da sei was dran. Warum soll man ignoranten Verächtern der Demokratie die Möglichkeit geben, die Demokratie abzuschaffen?
Dass eine Regierung besser aus Wissenden bestünde, ist ein uraltes Argument gegen die Mehrheitsdemokratie. Auch der an der Georgetown University in Washington lehrende politische Philosoph Jason Brennan spießt alle möglichen Einwände auf, die man gegen die demokratische Herrschaftsform anführen kann und die einen am Ende, mit dem Diktum Winston Churchills, doch zum Schluss bringen, Demokratie sei die schlechteste aller Regierungsformen - außer allen sonst bekannten.
Nationalismus in Ungarn:"Orbán sieht sich als spiritueller Führer"
Ungarn als Sehnsuchtsort für Populisten: Die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky über deutsche Zuzügler, Breitbarts Lobeshymnen auf Viktor Orbán und dessen Wunsch nach einem "Großungarn".
Brennan, der schon Bücher gegen die Wahlpflicht und über die Ethik des Wählens vorgelegt hat, möchte mit dieser Selbstberuhigung Schluss machen und schießt mit argumentativer Raffinesse und einer Reihe entwaffnender Beispiele gegen demokratische Illusionen.
Für ihn sind die meisten Bürger und Wähler unwissende, irrationale und schlecht informierte Nationalisten; bei der Beurteilung grundlegender ökonomischer oder politischer Fragen begehen sie systematische Fehler und neigen zu Voreingenommenheit.
Brennan behauptet, die politische Teilhabe korrumpiere uns
Und anders als es die Theorie will, mache sie politische Teilhabe nicht zu besseren, sondern zu schlechteren Menschen. Das geht vor allem gegen Befürworter einer deliberativen Demokratie, in der Bürger an den Beratungen über politische Fragen teilnehmen.
Brennan behauptet, dass eine solche edle Tätigkeit "eher abstumpft und uns korrumpiert, sie macht uns nicht zu besseren, sondern zu schlechteren Bürgern". Brennan bestreitet, dass demokratischen Rechte irgendeinen realen Wert für Durchschnittsbürger haben.
Er bevorzugt eine Epistokratie, die Herrschaft der Wissenden, ganz gleich, ob wir, als selber wissende Vulkanier, an ihrer Auswahl teilnehmen dürfen oder, als unwissende Hobbits, davon ausgeschlossen werden.
Nach dem Kompetenzprinzip sind "bedeutsame politische Entscheidungen als ungerecht, illegitim und nicht maßgeblich zu betrachten, wenn sie inkompetent, in böser Absicht oder von einem generell inkompetenten Organ gefällt werden. Freunde der Demokratie pflegen zugutezuhalten, dass sich Wähler vielleicht inkompetent verhalten mögen, die aus den Wahlen hervorgegangenen demokratischen Regierungen jedoch kompetent sein können und in der Regel sind."
So gefangen erklärt der späte Nachfolger des Demokratieskeptikers Platon: "Wenn es so ist, dann haben wir gute Gründe, der Epistokratie den Vorzug vor der Demokratie zu geben."
Zum libertären Schluss lässt Brennan die Katze aus dem Sack: "Daher sollten wir den Geltungsbereich der Zivilgesellschaft ausweiten und die politische Sphäre verringern. Wir sollten einen Versuch unternehmen, weil die Politik uns gute Gründe gibt, einander zu hassen." Und uns konsequenterweise auf Marktentscheidungen verlassen.
Eine Epistokratie herrscht, das Volk betätigt sich zivilgesellschaftlich und handelt friedlich miteinander? Das ist ein sehr platter Schluss für ein Buch, das Defizite der Demokratie grell beleuchtet und die einer libertären Anarchie und die "freien Spiels der Marktkräfte" ignoriert.
Brennan kann nicht entkräften, was bei allen Mängeln dennoch für Demokratie spricht, nämlich die jahrhundertelange Erfahrung, dass funktionierende Demokratien, wie Amartya Sen festgestellt hat, keine Hungersnöte produzieren und dass sie keine Kriege (gegeneinander) führen, ihre Bevölkerung nicht abschlachten, friedlichen Machtwechsel garantieren und die Menschenrechte mehr respektieren als alle anderen Herrschaftsformen. Und dass in Demokratien das Volk vertreten wird (und nicht direkt herrscht), ist ihre Art, eine "Weisheit der vielen" zu generieren, die den (Fehl-)Urteilen von Wissenden, also qua Amt und Karriere erleuchteten Experten, bisweilen meilenweit überlegen ist.
Im Effekt nahe bei Sarrazins "Kopftuchmädchen"
Dass der Autor im Unklaren lässt, wie Epistokraten ausgewählt werden, ist die größte Schwäche des Buches. Während das Prinzip one man, one vote ein transparentes Konzept ist, das Stimmen nicht gewichtet, präferiert oder löscht, bleiben Brennans Selektionen völlig undurchsichtig.
Praktisch würde man wohl "Bildungsschwache" (das sind Geringverdiener, Unterschichten, Minderheiten, ja auch Frauen) ausschließen, für die es angeblich besser ist, "kompetent" regiert zu werden. Hier ist Brennan, der dafür eigentlich viel zu klug ist, im Effekt nahe bei Sarrazins "Kopftuchmädchen".
Der Soziologe Alfred Schütz unterschied einmal vom "Experten" und dem "Menschen auf der Straße" den "gut informierten Bürger". Es wäre also vielmehr angebracht, diesen Typus zu kräftigen. Brennan ist ein guter Sparringspartner.
Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler und Inhaber der Ludwig-Börne-Professur an der Universität Gießen.