Süddeutsche Zeitung

Festivals:Metal im Wohnzimmer?

Das harte Wacken-Festival findet digital statt. Es ist ein Experiment, das scheitern muss.

Von Jakob Biazza

Man kann den Ort Wacken in Schleswig-Holstein im Normalzustand als besinnlich beschreiben: 1800 Einwohner, Einfamilienhäuser. Aber einmal im Jahr findet dort eben auch ein weltberühmtes Metal-Festival statt. 75 000 Besucher kamen 2019 zum 30. Jubiläum des Wacken-Open-Airs, 218 Bands und fast 7000 Mitarbeiter. Die halbe Million Liter Bier, die im Schnitt getrunken wird, läuft über eine Pipeline auf das 240 Hektar große Gelände. Viel Druck auf ein kleines Dorf.

Aber ein über weite Teile sehr willkommener. Die Anwohner beschreiben die Invasion jedenfalls als friedlich. Auch ihnen dürften die Besucher also fehlen. Denn Wacken geht in diesem Jahr wegen Corona ins Netz, das Festival wird zum Stream. Künstler wie Foreigner, Sabaton, Alice Cooper oder Kreator spielen noch bis Samstag live gestreamte Konzerte. Bei einer Art Warm-Up am Mittwoch pummelte bereits der Rapper Ice-T mit seiner Band Body Count über die Bühne des Whisky A Go Go in Los Angeles. Rage spielten in der Balver-Höhle in NRW. Anthrax gaben ein Konzert als Videokonferenz.

Und das ist als Experiment natürlich zum Scheitern verurteilt. Zumindest emotional. Festivals sind schließlich nicht einfach nur Konzerte. Sie sind Fluchten. Orte, an denen mehr möglich ist als anderswo: fast jede Form von Bekleidung, Sprache oder Geisteszustand zum Beispiel. Es gibt ja nicht mehr viele echte Freiheitsräume in dieser Gesellschaft. Die Open-Airs, die Covid-19 in dieser Saison umfassend eliminiert hat, kamen dem Ganzen aber manchmal doch relativ nahe. Einerseits. Andererseits sind die gigantischen Konzerte schon länger finanzielle und behördliche Großwagnisse.

Es mag tatsächlich Zeiten gegeben haben, in denen Veranstalter einen Pakt mit dem Wahnsinn eingingen, wenn sie Künstler wie Joe Cocker und ihre LSD-getränkte Entourage buchten. Kommt er? Und wenn ja: Wird er sich an seinen Namen erinnern können? Inzwischen paktieren sie vor allem mit Beamten und Anwälten, die mit Büchern voll Auflagen wedeln und Mondgagen aushandeln. Absagen, zumal des ganzen Events, sind damit finanziell schnell ein Desaster.

Viel Druck also auch hier. Ein gutes Festival zeichnet sich deshalb schon unter Normalbedingungen dadurch aus, den Widerspruch aus Freiheitsversprechen und Finanzierung möglichst elegant aufzulösen. Die Leute müssen ungehindert eskalieren, dabei aber die Bierreklamen des Hauptsponsors noch wahrnehmen. Und wiederkommen. Weshalb es für ein Festival wichtig ist, im Gespräch zu bleiben. Nicht leicht, in diesen Tagen.

Aber möglich. Das Electro-Event Wilde Möhre verteilt sich mit verändertem Konzept etwa auf mehrere Wochenenden. 150 Festivals, darunter MS Dockville oder das Puls Open Air haben sich zum "Festival für Festivals" zusammengeschlossen - als digitale Veranstaltung vom 21. bis 23. August zu sehen. Und Wacken wird eben "Wacken World Wide".

Mit denselben Widersprüchen: Weil an der Übertragung der Dienst eines großen Internetkonzerns beteiligt ist, wurde auch hier von Fans an der Kommerzialisierung herumgemäkelt. Womit ja zumindest in diesem Punkt trotz Corona noch alles beim Alten ist.

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Quelle:
SZ vom 01.08.2020/khil
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