Wachtveitl über Fußball:"NixdaEinwurf - ScheißdreckEinwurf"

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Es heißt, der Profifußball sei hart. Doch was "Tatort"-Kommissar Udo Wachtveitl über Schicksale im Bubenfußball zu erzählen hat, ist noch viel erbarmungsloser: Eine Kurzgeschichte zur Europameisterschaft.

Udo Wachtveitl

Es gab normale Tage und nicht normale. An normalen Tagen kamen wir von der Schule nach Hause, stellten die Schultasche ins Eck und gingen raus zum Fußballspielen auf den Platz.

Es war dies keine Sportanlage, auch nicht der Bolzplatz des Freizeitheims, überhaupt nichts Sozialpädagogisches, sondern ein Stück undefiniertes Land in der Nähe vom Quetschwerk. Brachland, Königreich, Spielplatz, auch Schauplatz für Bandenkriege und grausame Rituale.

(An unnormalen Tagen passierte nichts Berichtenswertes, deshalb erzähle ich die Geschichte eines Fußballwunders, die sich an so einem normalen Tag abspielte. Der Tag, an dem Thomas S. eine Prophezeiung erfüllte, die Andy Warhol damals noch gar nicht gemacht hatte.)

Keine Alternativen

Man traf sich also zum Fußballspielen. Und das ist gleichbedeutend mit : "Man traf sich", denn es gab keine Alternativen, jedenfalls nicht für die Jungs. Was die Mädchen in jener Epoche machten, weiß ich nicht mehr.

Um zwei Uhr also, vielleicht war es schon halb drei, spielte sich an jenem wie an jedem normalen Tag das grausame Ritual der Mannschaftsbildung ab.

Es begann mit dem Hühnerdapperlduell: Zwei von den "Großen", die jeweils den Nukleus einer Mannschaft bilden sollten, stellten sich gegenüber auf und gingen aufeinander zu, indem sie Ferse an Fußspitze setzten.

Grad der Verspezelung

Jeder machte abwechselnd ein solches Hühnerdapperl, und wer als Letzter seinen Fuß in den verbleibenden Raum setzen konnte, der hatte den Erstzugriff auf die restlichen Spieler.

Es wurden abwechselnd die restlichen Buben den beiden Mannschaften zugeordnet, wobei neben der Spielstärke auch der Grad der Verspezelung - was sich nur sehr ungenau mit Sympathie übersetzen lässt - eine große Rolle spielte.

Einige gab es, die immer als Letzte gewählt wurden, zu ihnen gehörte Thomas S. Wenn das Glück des ersten Zugriffs und die Aufteilung Zug um Zug dazu geführt hatten, dass einer der Chefs schon eine gute Mannschaft um sich geschart hatte, dann wurden diese armen Tropfe wie Ramsch-Ware großmütig der vermeintlich schwächeren Mannschaft zugeschlagen, en gros sozusagen. Der terminus technicus für diese Verfügungsmasse hieß "d'Suppn", die Suppe also.

Gnadenakt

Meistens aber wurde das Ritual formal korrekt bis zum Ende durchgespielt, was dazu führte, dass jedem aus der Supp'n sein Marktwert auf die Rangstelle genau und grausam deutlich vor Augen geführt wurde.

In einigen seltenen Fällen ließ es sich so ein Anführer aber sogar entgelten, wenn er den X oder den Y noch in seine Mannschaft aufnähme, als Kompensation für die Schwächung der Mannschaft durch diesen Gnadenakt. Über die Höhe dieser Kompensation gab es dann ein entwürdigendes Geschacher:

"Hey, wenn ich den nehm, dann brauch ich mindestens zwei Tore Vorsprung."

"Zwei Tore? Du spinnst ja! Ballbesitz und zwei Ecken kannst haben!"

"Dann nimm du ihn doch."

"Wir sind schon komplett."

"Wir auch."

"Na gut, ich nehm ihn, aber dafür will ich zwei Elfer."

"Meinetwegen. Weil ich heut meinen guten Tag hab."

So ging das manchmal minutenlang.

Die Unglückseligen ließen diese Erniedrigung geduldig über sich ergehen, manchmal retteten sie sich über die Zeit, indem sie unbeteiligt taten oder sich über irgend etwas Sachfremdes unterhielten, leise natürlich, um die Anführer nicht zu stören oder gar zu provozieren. Aber das war nur vorgetäuscht, denn ihre Gespräche erstarben sofort, wenn die Mannschaften feststanden.

(Und da heißt es, der Profifußball sei hart . . .)

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie ein Spieler aus der "Suppn" unerwartet ein Tor schießt.

An jenem Tag spielten wir auf ein Tor, was nicht als Metapher für einen einseitigen Spielverlauf missverstanden werden darf. Es gab tatsächlich nur ein Tor und einen Torwart. Ob das den Platzverhältnissen (der Geometrie des Platzes) geschuldet war oder der Tatsache, dass es nur einen Freiwilligen für das Tor gab, weiß ich heute nicht mehr.

Beim Spiel auf ein Tor jedenfalls wurde der Torwart durch Schwur und Androhung von Sanktionen zu strikter Neutralität verpflichtet. So musste er sich zum Beispiel beim Torabwurf umdrehen und den Ball mit beiden Händen hinter sich ins Spielfeld werfen. Abstoß gab es nicht. Fiel ein Tor, so zählte es für die Mannschaft mit dem letzten Ballkontakt.

Hastig und ängstlich

Man kann sich leicht denken, dass die Spielstärke auch der Besseren nicht ausreichte, um den Lauf des Balls zu jedem Zeitpunkt zu kontrollieren, und so konnte es schon passieren, dass auch einer aus der Supp'n einmal in Ballbesitz kam.

So auch Thomas S., der sofort angebrüllt wurde, umgehend abzugeben, "bevor was passiert!", was den armen Kerl natürlich noch nervöser machte, als er sowieso schon war. Hastig und ängstlich versuchte er, den Ball zu Martin zu spielen - unserem Chef - , hackte stattdessen in den Boden, traf aber irgendwie auch den Ball, der völlig ungeplant und von Gegner und Torwart völlig unerwartet in Richtung Tor kullerte.

Fußfessel

Den zu kriegen wäre eigentlich ein Leichtes für Hans, den Torwart, gewesen, wenn er nicht gerade dabei gewesen wäre, die Trainingshose auszuziehen. Er machte noch einen verzweifelten Versuch, in die Ecke zu trippeln, aber der Hosenbund an den Knöcheln wirkte wie eine Fußfessel, und so geschah es, dass Thomas S. wirklich und tatsächlich ein Tor schoss.

Zuerst wurde die Rechtmäßigkeit des Treffers disputiert, denn angeblich hatte Hans den Kleidungswechsel angekündigt, was aber niemand gehört hatte. Schließlich dekretierte Fredy, der Chef der gegnerischen Mannschaft, dass wir das Tor ruhig zählen könnten, wir hätten sowieso keine Chance.

Fredy war leicht auszurechnen: Er wollte uns durch seinen Großmut nur noch mehr demütigen, eine solche Kuriosität wie das halbreguläre Tor eines Thomas gelten zu lassen, würde seinen Sieg nur noch mehr strahlen lassen.

Immer verbissener und brutaler

Das Spiel entwickelte sich aber ziemlich ausgeglichen, und so stand es nach dem gefühlten Ablauf der üblichen Spielzeit unentschieden, sechs zu sechs oder acht zu acht, was eben die Ergebnisse damals so waren. Fredy bereute wohl inzwischen seine Großzügigkeit, denn er spielte immer verbissener und brutaler. Im selben Maß aber war unsere Laune und wohl auch unsere Mannschaftsleistung gestiegen.

Fredy unternahm einen letzten, zornigen Versuch, das Blatt zu wenden, er fischte sich den Ball von ganz hinten, rannte einen anderen Gegner aus der Supp'nkaste schlicht um und dribbelte am Ditschie vorbei, was ihm aber nur dadurch gelang, dass er das Trafohäuschen als Bande benutzte; eigentlich seit letztem Sommer ein klarer Regelverstoß.

Wie eine Silvesterrakete

Silvesterr"Einwurf, Halt! Stopp! Einwurf", brüllten die unseren. Aber Fredy schrie nur mit hoher, gepresster Stimme zurück: "NixdaEinwurfScheißdreckEinwurf". Der Ball sprang ihm in idealer Höhe vor den Fuß, er holte aus, und mit aller Kraft, die ihm zu Gebote stand, drosch er drauf. Der Ball schoss wie eine Silvesterrakete Richtung Tor und wäre vermutlich knapp daran vorbei geflogen, wenn nicht . . . ja, wenn nicht Thomas S. genau in seiner Bahn gestanden wäre.

Thomas hatte die letzten paar Minuten kaum noch am Spiel teilgenommen, zum einen aus Konditionsgründen, zum anderen aber vielleicht auch, weil er an jenem Tag schon mehr erreicht hatte als jemals zuvor und er sich diese Bilanz nicht durch einen schmachvollen Fehler vermiesen wollte.

Der Ball rast also auf ihn zu, einer ruft noch "Vorsicht!", Thomas hebt ein wenig dasig den Kopf und in dem Moment explodiert eine Bombe an seinem Ohr.

Lesen Sie auf der dritten Seite, wie Thomas kurzfristig zum Kopfballjoker wurde.

Thomas fällt um wie ein Sack, da ist keine Hand mehr, die den Sturz abfängt, keine Abrollbewegung, da ist nur noch leblose Schwerkraft. Nicht weit davon entfernt - in Pfostennähe - landet ein vergebens hechtender Torwart auf dem Boden, am anderen Ende des Tors aber geschieht das Unfassbare, das Wunder: Da nämlich hoppelt ein Lederball lakonisch über die Linie. Technisch und statistisch also ein Kopfballtor, juristisch möglicherweise versuchte Körperverletzung und medizinisch auf jeden Fall zu Sorge Anlass gebend, der ganze Vorgang.

"Toor! Tooooor! Gewonnen, gewonnen!" brüllen die unseren, und "Super, Thomas! Ein Kopfer! Der Thomas hat einen Kopfball versenkt!"

Angst schleicht in die Gesichter

Doch Thomas rührt sich nicht und sagt auch nichts. Ein erster Mitspieler macht sich Sorgen, kniet sich neben ihn, andere kommen dazu, Angst schleicht in die Gesichter, dass da vielleicht etwas Furchtbares passiert ist. Ditschie nimmt ihn an den Schultern, schüttelt ihn leicht und sagt: "Thomas!? Hey Thomas!? Hast ein Tor geschossen. Einen Kopfball!"

Da schlägt der Held die Augen auf, berappelt sich, bringt sich mit Hilfe der anderen mühevoll in die Vertikale, hebt am Ende gar die Hände zum Triumph: "Toor" ruft nun auch er, "Toooor", und "Eins zu null! Eins zu null!" Eins zu null? Aber keiner widerspricht ihm. Und immer lauter schreit er, fast wie von Sinnen: "Toor! Eins zu null!"

Und nun begann für Thomas S. die Viertelstunde Berühmtheit, die Andy Warhol ein paar Jahre später jedem zubilligen sollte.

Kaltes Wasser aus dem Quetschwerk

Ob Thomas S. aber selbst viel davon mitbekommen hat, muss bezweifelt werden. Jedenfalls dauerte sie vom Torerfolg bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein paar von den Verantwortungsvolleren ihn zu Hause bei seinen Eltern abgaben, nicht ohne vorher den riesigen roten Fleck auf seiner linken Gesichtshälfte, auf dem sich die Ledernaht des Balles ganz deutlich abgezeichnet hatte, mit kaltem Wasser aus dem Schlauch vom Quetschwerk zu kühlen.

Wie wir später erfahren haben, sind seine Eltern am Abend mit ihm ins Krankenhaus gefahren, weil er immer noch etwas absent wirkte und ihm das Ohr weh tat. Es war aber nichts, Trommelfell intakt, kein Schleudertrauma, auch keine Gehirnerschütterung. Nur ein Zeh war angebrochen, aber das war schon beim ersten Tor passiert. Tapferer Thomas.

Eine Woche musste er aussetzen. Als er wieder kam, wirkte sein Ruhm noch für ein oder zwei Spiele nach, und er wurde nach dem Hühnerdapperln als potentieller Kopfballjoker relativ früh eingekauft. Doch nachdem er die in ihn gesetzten Erwartungen regelmäßig enttäuscht hatte, fand er sich bald in der Supp'n wieder und erduldete die Grausamkeiten der Mannschaftswahl.

Tapferer Thomas.

Udo Wachtveitl wurde in München geboren und spielt seit 1991 den Münchner Tatort-Kommissar Franz Leitmeyer. Mit seinem Kollegen Miroslav Nemec (Kommissar Ivo Batic) wird er am 28. September in seinem 50. Fall ermitteln. Wachtveitl, 49, ist ein vielseitiger Künstler, was sich bei seiner populären Tatort-Sozialisierung nicht sofort vermittelt. Er schrieb Drehbücher, führte Regie, wird als Synchronsprecher eingesetzt und beendete sein Philosophie-Studium als Magister. Leidenschaftlich spielt Udo Wachtveitl Fußball, vor zwei Wochen erst wieder in der deutschen Autoren-Nationalmannschaft (Foto: Stephan Rumpf). Im Kreise der Dramatiker und Schriftsteller erwies er sich als solider rechter Verteidiger und Verursacher eines Elfmeters gegen sein Team.

© SZ vom 6.6.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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