Rätsel machen das Leben erst lebenswert, und weh dem, der ein Rätsel löst. Denn der mag für Wissenschaft und Aufklärung einen Sieg erringen, er beraubt aber die Menschen eines Mysteriums, das sie von Schrecken und Banalität des Alltags ablenkt. Das Voynich-Manuskript ist das größte Rätsel und Mysterium in Buchform. Seit 100 Jahren beschäftigen sich Forscher, Aficionados und Verrückte damit, die Rätselschrift und Sprache auf den 100 Pergamentblättern zu entziffern, die zwischen den Texten bunt bemalt sind mit den seltsamsten Fantasiepflanzen, mit Blättern, kosmischen und sonstigen Kreisen, Badeszenen, Körperteilen. Alles strahlt eine heitere Diesseitigkeit aus, eine ungebremste Lebensfreude, die selbst die zahlreichen Faksimiles in Buchform als auch im Netz ausstrahlen.
Nur versteht niemand, was da geschrieben steht. Dabei gibt es, angefangen bei dem barocken Starintellektuellen Athanasius Kircher, jede Menge Entzifferungs- und Übersetzungsversuche. Latein wurde als Sprache vermutet, Tschechisch, Aztekisch, irgendein frühes Romanisch, Fantasiesprachen, Sinnloskauderwelsch, Logiksprache, Dänisch, Deutsch, Arabisch, Hebräisch, gar Sprachmixturen.
Der neueste Entschlüsselungsversuch stammt von dem Ägyptologen Rainer Hannig, der ein riesiges Altägyptischwörterbuch herausgibt.
Hannig behauptet, das Voynich-Manuskript sei in mittelalterlichem Aschkenasisch abgefasst, der Sprache der europäischen Ostjuden. Hannig hat seine Ergebnisse gerade sechzigseitig ins Netz gestellt. Ein Interview ist nicht möglich, weil der Forscher zum ungünstigsten Zeitpunkt seiner Laufbahn erkrankt ist (nein, nicht Corona).
Was für ein Kauderwelsch: "Ängstlich verschloss er Gemach, Haustür auch."
Laut einer C-14-Datierung wurde das Alter der Voynich-Pergamente zwischen 1404 und 1438 verortet, beschrieben wurde es kurz danach. Es ist also keine Fälschung. Einer seiner ersten Besitzer, der Naturwissenschaftler Johannes Marcus Marci, kolportierte, dass der an Alchemie und Okkultem interessierte Kaiser Rudolf II. einer der Vorbesitzer gewesen sei. Später bekam vermutlich der erwähnte Jesuit Athanasius Kircher das Manuskript in die Hände, nahm es mit nach Italien. Dort taucht es 1912 in einem Jesuitenkolleg bei Frascati auf, entdeckt von Wilfrid Michael Voynich, dem es seinen Namen verdankt.
Voynich war Chemiker und beteiligte sich am polnischen Unabhängigkeitskampf. Nach Sibirien deportiert, gelang ihm im dritten Anlauf die Flucht, er kam 1890 nach London, machte auf Bücherantiquar, entdeckte den Voynich, ging mit ihm in die USA und starb dort 1930. Das Manuskript gehört heute der Yale-Universität. Eine algorithmusgestütze Studie der Uni Alberta hat ergeben, dass 80 Prozent des Voynich-Textes Hebräisch sei. Diesen Ansatz verfolgt Hannig. Denn die meisten der Wörter sind kurz, sie weisen oft eine Wurzel aus drei Konsonanten aus, auf die meist ein Vokal folgt. Das ist typisch für semitische Sprachen. Nun sind sich die Voynichisten nicht einig, wie viele Buchstaben das Manuskript verwendet, sie zählen 20 bis 30. Es gibt einen Mix aus lateinischen Buchstaben, arabischen Ziffern und grafisch verschlungenen Sonderzeichen, die an asiatische Schriften erinnern. Diese "Galgenzeichen", Hannig zählt sechs davon, bringt er mit jenen sechs Buchstaben des hebräischen Alphabets in Verbindung, die mit und ohne Punkt in ihrer Mitte geschrieben werden können und entweder hart oder weich gesprochen werden: k, t, b, g, d, p. Zuletzt kann Hannig 28 Zeichen dem mit 34 Zeichen operierenden hebräischen Alphabet zuordnen, ein paar Zeichen stellen ihn (noch?) vor ein Rätsel.
Nun, denkt sich der Laie, müsste es also relativ leicht sein, das Manuskript zu lesen. Doch wie immer macht die Praxis der Theorie einen Strich durch die Rechnung. Der Anfang des Textes lautet in Hannigs Interlinear-Übersetzung so: "Stöhnte Ackersmann über Zeiten, der bequem saß im Dorf, aß er eine Suppe - er wurde krank, nachdem er die Verdauung beendet hat." Dann geht der Bauer zu einem Kurpfuscher, der ihm eine Fehldiagnose verpasst, und kehrt heim: "Ängstlich verschloss er Gemach, Haustür auch." Das - hätte niemand als Anfang eines der berühmtesten Bücher der Welt erwartet. Hannig übersetzt noch drei daran anschließende kurze und genauso rätselhafte Stellen, dann noch die Einlassung zum Seerosenbild.
Ein klarer Sinn ist da nicht erkennbar. Hannig schreibt, eine Gesamtübersetzung werde "einige Jahre in Anspruch nehmen, selbst wenn ausgewiesene Hebraisten die Analyse übernehmen. Die Eigenart der Schrift, die gewöhnungsbedürftige Aussprache, die Eigentümlichkeiten und der Wortschatz aus jener Zeit werden selbst einem Muttersprachler des Ivrits größte Probleme bereiten."
Jetzt sind die Hebraisten am Zug, Hannigs Lösung zu begutachten. Der Voynich-Fan aber ist leicht enttäuscht. Weder erklärt Hannig, warum Hebräisch mit einem Kryptoalphabet geschrieben wurde, noch bietet er Erhellendes über Absicht und Inhalt des Werks. So einfach lässt sich dem Text sein Rätsel doch nicht entreißen. Und das ist gut so.