"Vortex" von Gaspar Noé im Kino:Am Ende allein

Francoise Lebrun und Dario Argento als altes Ehepaar in Gaspar Noés Film "Vortex".

Geteilte Bilder des Auseinanderdriftens: Francoise Lebrun und Dario Argento als altes Ehepaar in Gaspar Noés Film "Vortex".

(Foto: Rapid Eye Movies)

Der französische Extremfilmer Gaspar Noé wendet sich zärtlich dem Alter zu: "Vortex" ist ein wunderbarer Liebesfilm.

Von Philipp Stadelmaier

Eine Dachgeschosswohnung in einem Pariser Hinterhof, die Bücher stapeln sich bis unter die Decke. An den Wänden hängen die Plakate der Filme und der politischen Kämpfe, die zwei lange Leben erfüllt haben. Werke von Fritz Lang und Godard, Renoir und Carl Theodor Dreyer. Slogans gegen den Vietnamkrieg und für das Recht auf Abtreibung. Ein altes Paar lebt hier, ein Mann und eine Frau. Auf dem Balkon trinken sie am frühen Abend miteinander einen Aperitif, stoßen an: "Auf uns." Es ist ein letzter, kurzer Moment gemeinsamen Glücks, bevor sich die Nacht auf sie herniedersenkt, sie geistig und körperlich immer mehr verfallen.

Das Leben, sagt die Frau, ist ein Traum. Der Mann zitiert Edgar Allen Poe und präzisiert: Es ist ein Traum in einem Traum. Man kann das phrasenhaft und prätentiös finden, in Wahrheit ist es klar und präzise. Die Frau war Psychiaterin und weiß um die Macht der Psyche, des Unbewussten, der Träume. Der Mann war Filmkritiker und -historiker und weiß, dass es im Traum des Lebens noch einen anderen Traum gibt: die Filme, die die Zuschauer im dunklen Kinosaal sehen, als würden sie mit offenen Augen träumen.

In eine Traumtiefe, wie sie nur Filme erreichen können, wirft uns Gaspar Noé in seinem neuen Werk dann auch von Anfang an hinein. "Vortex", Wirbel heißt der Film, der im vergangenen Jahr auf dem Festival von Cannes gezeigt wurde und von einer Sanftheit, Tiefe und Reife ist, die umso überraschender ist, als dass man sie von Noé niemals erwartet hätte.

Mit Filmen wie "Enter the Void", "Love" oder "Climax" hat sich Noé eher einer sex -und drogenversessenen, exzessiv tanzenden und selbstzerstörerischen Jugend verschrieben. Penetrant umherkreisende Kameras, Reisen durch körperliche und ätherische Geburtskanäle, gewollt provokantes Dauerfeuer auf schnell überreizte Netzhäute machten sein bisheriges Werk oft zu einer ziemlich nervigen Angelegenheit - ganz zu schweigen von seinem Gewalt- und Racheexzess "Irreversibel", einer fast traumatischen Kinoerfahrung der Nullerjahre.

In "Vortex", der sich dem Alter zuwendet, geschieht das Eintauchen in die Bilder hingegen auf ganz ruhige Art, in Form eines schleichenden Auseinanderdriftens. Sieht man das Paar auf dem Balkon noch in einer gemeinsamen Einstellung, spaltet sich das Bild bald, wird zum Split Screen, zeigt nun zwei Filme zugleich: Sie teilen sich das Bild, doch jeder bewohnt nun seine eigene Welt. Während sie das Gedächtnis verliert, sich nicht mehr an Namen und Gesichter erinnern kann, versucht er, die Vergangenheit zu bewahren, indem er ein letztes Buch schreibt - über das Kino und die Träume.

Hier haben Schwäche und Verletzlichkeit ihren Platz

So wie die Wohnung mit Filmplakaten, DVDs und Videokassetten ein Filmmuseum ist, sind die getrennten Bildkacheln auch zwei Denkmäler für zwei große Figuren des Kinos. Die Frau wird gespielt von Françoise Lebrun, Jahrgang 1944, die einst mit Jean Eustaches "Die Mutter und die Hure" berühmt wurde, einem der schönsten französischen Filme überhaupt. Der Mann wird verkörpert von dem Filmemacher Dario Argento, Jahrgang 1940, dem italienischen Altmeister des Horrorthrillers. Letztlich ist der komplett improvisierte Film auch eine Dokumentation über Lebrun und Argento, über ihre Art, sich zu bewegen, über ihr Alter und die Intimität ihrer Körper, die sie ihren namenlosen Figuren leihen.

"Das Schicksal dreht sich in der Stadt, dann schlägt es zu", sagt der von Argento gespielte Filmhistoriker. Der Satz könnte aus einem Film des Giallo-Meisters selbst stammen, der vom Einbruch böser Kräfte handelt. Hier aber eint das Schicksal alle, die es trifft, auch den erwachsenen Sohn des alten Paares. Er hat ein kleines Kind, eine psychisch kranke Frau, Geldprobleme und eine Schwäche für Heroin. Und nun noch zwei gebrechliche Eltern.

Während die geteilte Leinwand die Figuren isoliert, bewahrt sie das Familiengebilde in der Phase seines Zerfalls. Einmal sitzen sie zu dritt beisammen für ein unangenehmes Gespräch über Heimplätze und die Abhängigkeit des Sohnes - er links, die Eltern rechts, die beiden Bildkader rücken ganz nah zusammen. Die Szene, die ebenso gut in hässlichen Streit ausarten könnte, ist wunderschön, weil Schwäche und Verletzlichkeit ihren Platz haben.

Die Familienmitglieder verurteilen sich nicht, bleiben liebevoll im Umgang, haben Verständnis füreinander. Schon Michael Haneke hatte in seinem oscarprämierten "Liebe" ein altes Ehepaar beim Sterben in deren Pariser Apartment gefilmt. Doch während von Hanekes Film die technische Perfektion der Inszenierung im Gedächtnis bleibt, ist es bei Noé tatsächlich - die Liebe.

Vor allem ist "Vortex" eine umwerfende Meditation über das Leben von Filmfiguren. Sind Filme, wie der Mann einmal sagt, Träume auf der Leinwand, dann ist das Leben der Figuren nur jener "Traum in einem Traum", auf den er mit Poe immer wieder zu sprechen kommt. Womit die Figuren, mit dem Vergehen des Traums, zwangsläufig ihrem Verschwinden entgegengehen. Aber auch ihrer Verwandlung in Erinnerungen, als die sie in uns Zuschauern lebendig bleiben.

Vortex, Frankreich, Belgien 2021 - Regie und Buch: Gaspar Noé. Kamera: Benoît Debie. Mit Dario Argento, Françoise Lebrun, Alex Lutz. Rapideyemovies, 135 Min. Kinostart: 28.4.2022.

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