Vorschlag-Hammer:Video ergo sum

Ich könnte eine Konzerte-Rangliste des Jahres 2015 allein aus jenen Gänsehautmomente erstellen, die ich hernach am häufigsten noch einmal auf Youtube nachzuerleben versuchte

Von Michael Zirnstein

Herbert Grönemeyer hat mal gesagt, am liebsten würde er das Mitfilmen seiner Konzerte auf Handys verbieten. Im Fokus all der Kameralinsen denke er sich bei jedem seiner ungelenken Tanzschritte, dass der nun für die Ewigkeit im Internet festgehalten sei. Das hemme ihn. Mal abgesehen davon, dass ein staatstragender Musiker das wohl aushalten muss, hat er Recht. Über nichts kann ich mich bei Konzerten so sehr aufregen wie über das voyeuristische Display-Geflimmer und die dafür Verantwortlichen, die Musik lieber auf Fünf-Zoll-Bildschirmen verfolgen als hallenfüllend in 3D, vulgo: in Echt.

Andererseits: Ich nutze die Video-Bootlegs anderer intensiv. Ja, ich könnte eine Konzerte-Rangliste des Jahres 2015 allein aus jenen Gänsehautmomente erstellen, die ich hernach am häufigsten noch einmal auf Youtube nachzuerleben versuchte. Den Start von Tocotronic im Club Strom zum Beispiel, wo Dirk von Lowtzow im rosa "Eiskönigin"-Shirt mit "Ich öffne mich" seine Vision vom Diskurs-Kuschelrock präsentierte. Oder, auch im Strom, die Linzer Bazis der Folkshilfe, die mit ihrem Offbeat-Arschwackler "Seit a poa Tog" 30 geladene Flüchtlinge zum Tanzen brachten (am 21. Februar wieder im Strom). Die Disco-Guerilla Pollyester, bei deren strahlendem Konzert an den Kammerspielen die Besucher beinahe lüstern übereinander herfielen (am ersten Weihnachtsfeiertag gibt die Band zusammen mit dem magischen Dance-Produzenten Leo Hopfinger alias Leroy und anderen ein Benefizkonzert für Flüchtlinge in der Roten Sonne). Dann wäre da noch Natalie Klitschkos Privat-Show in einer Münchner Hotel-Suite. Sie sang fein auf Ukrainisch, zeigte bei Fragen nach ihrem Ehemann Vitali allerdings eine Angriffslust, mit der Schwager Wladimir noch Box-Weltmeister wäre.

Was ich mir sonst in Endlosschleife reinzog: Das bedrückende "Drones" von Muse beim ersten Rockavaria (das zweite: 25. bis 27. Juni im Olympiapark; Muse am 31. März). Sting, wie er beim Doppelkonzert in der Olympiahalle Paul Simons "America" auf der Kleingitarre zelebrierte und nahtlos in sein eigenes "Message in a Bottle" überführte. Wie Bryan Ferry im Circus Krone "Don't Think Twice" ehrlicher als Bob Dylan gab. Wie der junge Münchner Stenz Darcy beim Digital-Analog-Festival stolz auf Rea Garveys Gitarre spielte. Wie eine aufgekratzte La Brass Banda bei der "Brass Wiesn" mir der Youngblood Brass Band aus New York anbandelte, ohne die es sie nicht gäbe (nächste Brass Wiesn: 5. bis 7. August in Eching). Und tatsächlich zwei Mal Grönemeyer, erst bei seiner Flüchtlings-Elegie "Roter Mond" in der Olympiahalle, dann, als er beim "Wir"-Festival am Königsplatz den versammelten Kollegen zum Finale das Mikro hinhielt. Auf den Königsplatz kehrt er am 5. Juni zurück. Ich verspreche mir 2016 außerdem einiges von Rihanna (7.8., Olympiastadion), Mariah Carey (14.4., Olympiahalle), Fraktus (23.1., Muffathalle), Steven Wilson (13.1., Philharmonie), Lindenberg (24./25.5., Olympiahalle) und Stereo Total (6.4., Strom). Aber was auch kommt, das Handy bleibt stecken, sollen die anderen filmen.

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