Vorschlag-Hammer:Nie mehr hilflos

Was passiert eigentlich, wenn eine Kritikerin ihr Notizbuch im Theater liegen lässt?

Kolumne von Christiane Lutz

Kürzlich ist mir etwas sehr Unangenehmes passiert. Ich war im Theater bei einer Premiere, über die ich eine Kritik schreiben sollte. Eifrig notierte ich in mein Notizbüchlein, das ich zu diesem Zweck gekauft habe. Es ist klein und blau und passt in die schwarze Handtasche, anders als die großen Notizbücher, die ich sonst bei der Arbeit verwende. Man muss dazu wissen, dass ich einen ausgeprägten Papier-Fetisch habe und niemals in diese kratzigen Spiralblöcke schreiben würde, die zuhauf und umsonst in der Redaktion herum liegen, sich aber wie Schmirgelpapier anfühlen. Papier muss man streicheln und an der Backe reiben wollen, dann ist es gutes Papier. Ich gebe also regelmäßig unverhältnismäßige Summen in Papeterien dafür aus, mir streichelzarte Notizbücher zu kaufen. So ein Notizbuch jedenfalls ließ ich im Theater liegen, es muss beim Applaus in die Ritze zum Nachbarsitz gerutscht sein. Ich stellte das am nächsten Tag, einem Sonntag, fest, als ich gerade anfangen wollte, die Kritik zu schreiben. Schockschreck, alles weg. Nicht nur das Büchlein, auch die Gedanken zur Inszenierung, die mir fürs Verfassen der Kritik unerlässlich schienen. Ohne Notizen fühlte ich mich sehr hilflos und aufgeschmissen.

Echte Hilflosigkeit in weitaus drastischerer Dimension kennt Max Dorner, Münchner Autor, sehr gut. Er sitzt im Rollstuhl und übt sich täglich in buddhistischer Gelassenheit, wenn irgendwo in dieser Stadt mal wieder ein Lift nicht funktioniert, der für ihn aber unerlässlich ist, denn ohne Lift kommt er nicht zur Bahn und nicht vom Bahnsteig hinauf. Wie er über den Rollstuhl aber auch zu Dankbarkeit und größerer Tiefe im Leben findet, beschreibt er in seinem Buch Steht auf, auch wenn ihr nicht könnt!, das er am Mittwoch, 8. Mai im Kösk vorstellt (19.30 Uhr, Schrenkstraße 8). Dem Thema Inklusion, mit dem sich Max Dorner intensiv beschäftigt, widmen sich auch die Kammerspiele. Die Vorstellung Hellas München am 21. Mai wird mit Übersetzung in Gebärdensprache gezeigt, Hamlet am 31. mit Audiodeskription für Blinde (Infos auf der Seite der Kammerspiele). Zum Auftakt gibt es am Sonntag, 5. Mai, 19 Uhr, Mit Alles, bei der Menschen mit und ohne Behinderung jeweils sieben Minuten Zeit bekommen, das Publikum zu bespaßen.

Meine Notizbuch-Krise löste sich an jenem Sonntag übrigens nach einem Anruf im Theater in Wohlgefallen auf. Der Pförtner hatte das Büchlein gerettet, ein lieber Freund brachte es mir mit dem Fahrrad hier heraus in unseren Büro-Turm. Bis er angeradelt kam, hatte ich allerdings festgestellt: Was ich einmal notiert habe, vergesse ich nicht. Aufschreiben ist nur um des Aufschreiben willens wichtig. Dennoch bin ich diesem Freund auf ewig dankbar, schließlich hab ich mein streichelzartes Buch zurück.

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