Süddeutsche Zeitung

Vorschlag-Hammer:Kasatschok und koide Wiener

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Ziemlich präzise beschreibt die Erste Allgemeine Verunsicherung in ihrem Klassiker "Märchenprinz" eine längst vergangenen Zeit. Dass die Österreicher nun auf Abschiedstour gehen, kündet noch zusätzlich vom Ende einer Ära

Von Michael Zirnstein

Der Meter war das Maß der Männlichkeit damals auf dem Land. Bratwurstspiralen erstreckten sich ausgerollt auf einen Meter; über geangelte Hechte unter einem Meter redete man nicht; ein Meter war der Abstand, den es in der Disco zur Trixi, Babsi, Zenzi oder Greta (wir kommen noch darauf) zu unterschreiten galt, wobei der Mut dazu mit jedem "Meterbier" wuchs. Dabei handelte es sich nicht etwa um einen einzigen Riesenhumpen, sondern um sieben Halbe, saufbereit aufgereiht in Vertiefungen auf dem ein Meter langen Servierbrett. Dieser Meter Helles machte den Unterschied: Ob man den Reigen Sirtaki tanzender Menschen auf dem von unten beleuchteten Tanzboden noch einen "Deppenkreis" nannte - oder schon selbst mitten darin im Kasatschok hockhopste. Den Rest solcher Abende im Münchner Umland mit Ludmilla, Babsi, Zenzi und den anderen Girls von der Heide beschreibt recht präzise die Erste Allgemeine Verunsicherung in ihrem Klassiker "Märchenprinz" - dass die Pop-Kasperl nun auf Abschiedstour gehen (10. März im Deutschen Theater, 18. Juli auf dem Tollwood), kündet schon auch vom Ende dieser ganzen Ära.

Wo hat man in einem gewissen Alter heute schon noch solchen unschuldigen Spaß? "Wenn man nicht mehr 25 ist, kann man nirgends hingehen, um zu tanzen. Es sei denn, man geht auf blödsinnige Partyreihen mit bescheuerten Titeln wie Ü30, Ü40, etcpp", schreibt Thomas Bohnet in der Ankündigung seiner neuen After-Work-Party - noch so ein Relikt einer etwas späteren vergangenen Zeit. Der Musikkenner ist freilich selbst der beste Gegenbeweis. Jahrelang brachte er mit seiner Tour de France Münchner Franzosen jeden Alters in Schwung, die 215. Etappe steigt diesen Freitag im Muffat-Café, dann gibt es noch eine 216. am 17. November im Atelier am Isartor, aber der DJ hat schon angedeutet, dass die Tour nicht mehr so zieht und er sie wohl auslaufen lässt. Dann müssen die hiesigen Frankophilen ihre Sehnsucht mit Konzerten wie von Coeur De Pirate (5. November, Freiheiz) oder Tahiti 80 (9. November, Feierwerk) stillen. Ersatzweise bittet Bohnet schon einmal am 31. Oktober zum Wednesday Afterwork Freakout im Kulturkeller d'Schwanthalerhöh, wo es außer Frenchpop mit Soul, Funk, Wave und Indiepop noch mehr Tanzmusik für Reife gibt.

Freilich, wer sich nur aufrafft, findet noch viel mehr. Ich empfehle die Re-Act!-Nächte in der Hypo-Kunsthalle, wo vom Techno-Club Harry Klein ausgesuchte DJs und Videokünstler jede Ausstellung wie gerade "Lust der Täuschung" völlig neu erlebbar machen. Diesmal, am 8. November, ist Seth Schwarz dabei, der mit Klassik aufgewachsen ist und deren Ideen mit Elektro-Mucke verschmilzt. Sehr erwachsen! Pflichttermin davor ist, zumindest für mich, der 3. November in der Loisachhalle in Wolfratshausen. Dort gibt es eine Revival-Party zur längst geschlossenen Großraum-Disse New Sound. Mit allem was dazugehört: den alten Türstehern, Bar-Leuten und Plattenauflegern wie DJ Nasenbär, der hoffentlich wie immer "I mog koa koide Wiener" spielt (die bayerische Version von "Funky Cold Medina"), mit Kopfweh-Getränken wie Erdbeer-Limes und Meterbier. Falls Sie auch kommen, Sie finden mich im Deppenkreis.

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SZ vom 26.10.2018
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