Süddeutsche Zeitung

Vorschlag-Hammer:Hang zur Provokation

Keine Sorge, mich hat keine Herbstdepression überfallen, nur weil ich den letzten Vers des Goethegedichts "Selige Sehnsucht" aus dem "West-östlichen Divan" zitiere. Aber die ohnehin viel zitierten Zeilen vom "Stirb und werde!" dienen gerade als Motto einer Ausstellung in Winden bei Haag

Kolumne von Sabine Reithmaier

Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde." Keine Sorge, mich hat keine Herbstdepression überfallen, nur weil ich den letzten Vers des Goethegedichts "Selige Sehnsucht" aus dem "West-östlichen Divan" zitiere. Goethe schrieb den größten Teil dieses Werks zwischen 1814 und 1819, also zwischen seinem 65. und 70. Lebensjahr. Er hatte keine Lust mehr auf das kriegszerstörte Europa und dichtete: "Nord und West und Süd zersplittern, / Throne bersten, Reiche zittern,/ Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten, / Unter Lieben, Trinken, Singen." Er schuf ein Werk des Respekts und des kulturellen Dialogs. Jetzt dienen die viel zitierten Zeilen vom "Stirb und werde!" als Motto einer Ausstellung.

Einmal im Jahr verwandelt die Galerie Angermeier ein altes Bauernhaus zwischen Ebersberg und Wasserburg in eine thematische Kunstbühne. Aber Achtung: Man hat nur genau sieben Tage Zeit, um im ehemaligen Kirchmoarhof nachzusehen, ob Goethes Verse mit den Fotografien, Installationen und Figuren von Jep Goldstein, Silvia Hatzl, Thomas Hans und Ute Lechner irgendetwas zu tun haben. Eröffnet wird die Schau an diesem Samstag, exakt eine Woche später endet sie mit einem Konzert in der Dorfkirche St. Jakobus in Winden bei Haag.

Die Anmerkung "Der Westen hat die größten Schweine" ist stilistisch im Vergleich zu Goethe zwar ein Absturz, aber trotzdem der sehr unmissverständliche Titel eines Werks des Malers KP Brehmers. Der "kapitalistische Realist", dessen Kunst einen dezidiert politischen Anspruch hatte, wäre heuer 80 Jahre alt geworden. Brehmer beschrieb seine Arbeitsweise als "ideologische Kleptomanie". Staat, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur konnte er am besten in deren eigenen Präsentationsformen kritisieren. Unvergessen seine verfremdete Nationalflagge, ursprünglich zu sehen auf der Documenta 5 in Kassel 1972. Er ordnete die Farben neu nach den Vermögenswerten in der BRD. Die Fahne fiel ungeheuer golden aus: Gold als Farbe des Großkapitals, während er den Mittelstand schwarz und die restlichen Haushalte in einem kaum erkennbaren schmalen Streifen rot färbte (vom 26. Oktober an im Neuen Museum Nürnberg). Einen beträchtlichen Hang zur Provokation besitzt auch Tomi Ungerer. In der Ausstellung des Gulbransson Museum in Tegernsee geht es in erster Linie um die Beziehungen zwischen Mann und Frau, ein Dauerthema für den Zeichner und Schriftsteller ("Der kleine Unterschied", bis 27. Januar im Olaf-Gulbransson-Museum in Tegernsee).

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Quelle:
SZ vom 25.10.2018
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