Vorschlag-Hammer:Die Sehnsucht nach dem Alten

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Es ist komisch mit der Vergangenheit. Auf der einen Seite hat sie einen ganz schlechten Ruf und wird nach Kräften verdrängt. Andererseits gibt es die Sehnsucht nach der "guten alten Zeit"

Kolumne von Oliver Hochkeppel

Es ist komisch mit der Vergangenheit. Auf der einen Seite hat sie einen ganz schlechten Ruf und wird nach Kräften verdrängt. Oder würden Sie es nicht als Vorwurf verstehen, wenn Ihnen jemand sagte, sie "leben in der Vergangenheit"? Nein, um positiv rüberzukommen, muss man heute mit beiden Beinen im Hier und Heute stehen, wenn nicht gar mit einer Nasenspitze voraus und dem Blick in die Zukunft gerichtet. So würden es wohl die meisten leugnen, wenn ihnen zum Beispiel ein Historiker nachzuweisen versuchte, dass alles, was sie sind und tun, von der Vergangenheit beeinflusst ist. Nicht nur, weil sie sich auf Schritt und Tritt durch alte Gemäuer wie Gedanken bewegen, die mit den verschiedensten Bedeutungen aufgeladen sind. Das scheinbar so auf den Moment konzentrierte Bewusstsein ist nur ein Reservoir von dem, was man in seinem Leben gelernt, erfahren und erlebt hat.

Vielleicht herrscht deshalb gleichzeitig zur Fortschrittsideologie diese große Sehnsucht nach der "guten alten Zeit". Mehr denn je, obwohl diese gute alte Zeit - dafür reicht schon der erste Augenschein, wenn man zum Beispiel die Lebenserwartung oder den durchschnittlichen Wohlstand betrachtet - so gut ja nie war. Das kann nachvollziehbare Gründe und positive Folgen haben, etwa wenn die Oide Wiesn dem modernen Turbo-Bespaßungsvolksfest trotzt, oder die gute alte Printzeitung der unselektierten Internetbeliebigkeit. Es kann aber auch - besonders wenn Angst ins Spiel kommt - eine Flucht vor der Realität mit katastrophalen Weiterungen sein. Etwa wenn sich die Briten oder Russen ihre alten Weltreiche wieder herbeisehnen, oder wenn immer mehr Deutsche sich gewisse alte Grenzen für das Land wie für die Köpfe zurückwünschen.

Ein Konflikt, den man aristotelisch mit der goldenen Mitte lösen sollte: Sich des Einflusses der Vergangenheit immer bewusst sein, aber nie darin gefangen bleiben - schlimm genug, dass die in diesem Jahr bisher meistgelesene Internetseite "Die Toten des Jahres 2017" ist. Sich das Beste von früher bewahren, um damit das Beste von morgen zu gewinnen, das hat in der Kultur schon immer funktioniert, in der Musik zum Beispiel. Was sich da als richtig und wichtig herauskristallisiert, wird "klassisch". Selbst im Rock, und so bringt die Sehnsucht nach den großen Alten nicht nur ständig die 75- oder 80-jährigen Originale zurück auf die Bühne, sondern auch Nachahmer und "Tributebands" wie Pink Floyd Performed By Echoes (am 5. im Circus Krone) oder Spirit of Smokie (am selben Abend im "Legends" in Olching).

Es ist völlig in Ordnung, das Repertoire der alten Stars live am Leben zu erhalten, doch noch schöner ist's, wenn man damit kreativ umgeht. So wie die Echoes of Swing etwa, das Quartett mit dem Münchner Stride-Pianisten Bernd Lhotzky, das die Jazzstile der Zwanziger- bis Vierzigerjahre sozusagen in der Zeitkapsel weiterentwickelt, statt ihnen modernistisch Gewalt anzutun. Und damit nach 20 Jahren weltweit einzigartig dasteht (das Jubiläumsalbum stellen sie am 6. Oktober in der Unterfahrt vor). Oder die Verbeugung vor der Tradition ergibt gleich etwas völlig Neues wie beim immer noch chronisch unterschätzten Pianisten Chris Gall (mit seinem Trio am 9. in der Seidlvilla).

© SZ vom 04.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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