Vor 50 Jahren endete der Algerienkrieg:Koffer oder Sarg

Hundertausende Algerier starben im Kampf für die Unanbhängigkeit ihres Landes von Frankreich. Vor 50 Jahren nach dem Ende des Algerienkrieges sind die Nachwirkungen in beiden Ländern noch immer zu spüren. Und ein gesellschaftliches Problem, das Frankreich nie lösen konnte - und wollte.

Rudolph Chimelli, Paris

Frankreichs Algerien-Minister Louis Joxe kam im Anorak und hatte zur Tarnung sogar Ski auf sein Autodach geschnallt. Niemand sollte erkennen, dass in dem kleinen Wintersportort Les Rousses im französischen Jura die Friedensgespräche mit der algerischen Nationalen Befreiungsfront FLN begannen. Sie verliefen so erfolgreich, dass Franzosen und Algerier schon wenige Wochen später, am 18. März 1962, im Hotel du Parc in Évian einen Waffenstillstand schließen konnten. Er trat am folgenden Tag um 16.06 Uhr in Kraft. Nach acht Jahren war der Algerien-Krieg zu Ende. Er hatte eine halbe Million Menschen das Leben gekostet - vorwiegend Algerier.

Das algerisch-franzoesische Trauma

Das algerisch-französische Trauma: Ein Panzer durchbricht in Algier eine Barrikade. Vor 50 Jahren endete einer der blutigsten und längsten Konflikte der französischen Kolonialgeschichte - der Algerienkrieg

(Foto: dapd)

Mehr als 3000 Bücher und drei Dutzend Filme haben sich in Frankreich seit der Unabhängigkeit mit dem algerischen Trauma beschäftigt. Doch weder hier noch dort wird der 50. Jahrestag dieses historischen Ereignisses offiziell gefeiert. Zu viel Bitterkeit ist auf beiden Seiten zurückgeblieben. Wiederholt hat der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika im Einklang mit der Stimmung bei den Militärs und der herrschenden Funktionärskaste - aber in diesem Falle auch mit den Islamisten - eine Entschuldigung Frankreichs gefordert, für "genozidartige Vorgänge", für die Ausplünderung des Landes.

Wenigstens eine Geste müssten die Franzosen machen. Doch die kam nicht, denn sie ist einem großen Teil der konservativen Wähler nicht zuzumuten. Als eine Gruppe von Abgeordneten vor einigen Jahren eine Entschließung verlangte, welche die "positiven Seiten" der Kolonisierung würdigen sollte, erhob sich ein Sturm - nicht nur in Algerien, sondern auch in anderen Ex-Kolonien. Ein vor drei Jahren geplanter Staatsbesuch Bouteflikas musste abgesagt werden. Der Entwurf eines Freundschaftsvertrags liegt auf Eis. Die Beziehungen sind frostig, nicht zuletzt weil Paris im Streit um die ehemals spanische West-Sahara Marokko unterstützt, Algier aber die Polisario-Befreiungsfront.

De Gaulles bewusste Täuschung

"Algérie francaise!" hatten die Menschenmassen Charles de Gaulle drei Jahre vor Évian auf dem Forum von Algier zugerufen, nachdem er von der Erwartung an die Macht zurückgetragen worden war, er werde - anders als die bankrotte Vierte Republik - den Krieg erfolgreich zu Ende führen. "Ich habe euch verstanden - je vous ai compris!", antwortete der General unter Beifallsstürmen mit ausgestreckten Armen. Es war eine bewusste Täuschung.

Ein Schlagwort der Ultras lautete damals "Ein Frankreich von Dünkirchen bis Tamansrasset!" Zu Vertrauten sagte der General: "Das würde schon in wenigen Jahren eine Nation mit 30 Millionen muslimischen Bürgern bedeuten." Dann besser die Unabhängigkeit. Im Rahmen privilegierter Beziehungen wollte de Gaulle die Verfügung über Algeriens Erdöl und Gas behalten plus einige Militärstützpunkte und das Gelände für die Atomversuche in der Sahara. Mehr nicht. Das Abkommen von Évian sah genau das vor: eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit, das Verbleiben der Algerien-Franzosen im Land, technische und finanzielle Hilfe Frankreichs für den neuen Staat, Verbleiben Algeriens im französischen Wirtschaftsverbund.

Doch daraus wurde nichts. Kaum war die Vereinbarung von Évian bekannt, intensivierte die "Geheimarmee" (Organisation de l'Armée secrète, OAS), die sich auf nationalistische Militärs und gewaltbereite Siedler stützte, ihren Terror. Nichts als verbrannte Erde sollten die Franzosen dem unabhängigen Algerien hinterlassen. Das Hauptziel einer Mordserie, der Tausende zum Opfer fielen, wurde vollständig erreicht. Ein Zusammenleben von Franzosen und algerischen Muslimen war danach nicht mehr möglich. Die Drohung "Koffer oder Sarg" war ernst gemeint. Noch bevor Algerien am 5. Juli formell seine Unabhängigkeit proklamierte, hatten die 900.000 "Pieds-noirs" die Flucht ins Mutterland ergriffen, das viele von ihnen gar nicht kannten. Sie ließen alles zurück: eine blühende Landwirtschaft, Häuser, Betriebe, Geschäfte, ihre Heimat, ihre Wurzeln.

Zu ersetzen waren sie nicht. Denn einen einheimischen Mittelstand gab es kaum. Als der Unabhängigkeitskrieg am 1. November 1954 ausbrach, gab es nur tausend algerische Universitätsabsolventen, unter ihnen 354 Anwälte, 165 Ärzte, 350 Beamte, 100 Offiziere und weniger als 30 Ingenieure.

Das Schicksal der "Harkis"

Übler noch waren die "Harkis" dran, die als einheimische Hilfstruppen auf Seiten der französischen Armee gekämpft hatten. Ihre Evakuierung nach Frankreich war nicht vorgesehen. Schätzungsweise 150.000 Harkis und Angehörige wurden von ihren Landsleuten als "Verräter" massakriert. Nur 67.000 Harkis mit 80.000 Angehörigen retteten sich nach Frankreich, wo sie zunächst in Lagern hinter Stacheldraht untergebracht wurden. Noch immer klagen sie, dass der Staat für sie weniger tue als für Ausländer. Vier von fünf Harki-Söhnen und -Enkeln sind arbeitslos. Ihre Identitätsprobleme sind drückend.

In den Augen vieler eingesessener Franzosen sind die Harkis Algerier. Von der großen algerisch-stämmigen Volksgruppe in Frankreich werden sie gemieden. Freundschaften zwischen "Beurs", jungen Franzosen algerischer Abstammung, und Harkis sind noch in der dritten Generation selten. Bouteflika nennt die Harkis abschätzig "Kollaborateure", in Anspielung auf die Vichy-Franzosen, die mit der deutschen Besatzung zusammenarbeiteten.

Dass es Frankreich nicht gelang, eine relativ kleine Zahl von Muslimen zu integrieren, die sich nichts sehnlicher wünschten, als Franzosen zu sein, wirft einen Schatten auf alle Bemühungen, ganze Vorstädte in die Gesellschaft einzugliedern, deren Jugend sich lieber in ethnische oder konfessionelle Ghettos zurückzieht. Der Jugend Algeriens bedeuten die heroischen Erzählungen vom Freiheitskampf nicht mehr viel.

Sie lebt in einem Staat, der durch Erdöl- und Gas-Exporte reich ist wie Kuwait, aber ihnen nur einen Lebensstandard bieten kann, der hinter dem von Tunesien und Jordanien liegt. Die Hälfte der jungen Männer ist arbeitslos. "Hittistes", arabisch-französisch für "Mauerlehner" ist die größte Berufsgruppe. Nicht nur sie, 27 Prozent aller Algerier bekannten kürzlich in einer Umfrage, sie wollten auswandern.

Dass der arabische Frühling Algerien nicht erreichte, ist nicht zuletzt eine Spätfolge der mörderischen Auseinandersetzung, die in den neunziger Jahren zwischen dem islamistischen Untergrund und dem staatlichen Unterdrückungsapparat tobte. Zwischen 150.000 und 200.000 Tote war die Bilanz jenes Bürgerkrieges. Am Anfang stand eine demokratische Öffnung, die Präsident Chadli Bendjedid vollzogen hatte.

Die Islamische Rettungsfront FIS gewann danach 1991/92 die ersten freien Wahlen in der arabischen Welt, zwei Jahrzehnte bevor sich ihre Gesinnungsgenossen in Tunesien, Ägypten und Marokko durchsetzten. Die Generäle, die den Wahlsieg der FIS hinwegputschten, machten es damals der westlichen Welt leicht, die Lektion nicht zu verstehen. Seither brechen in Algerien nur noch Krawalle gegen Missstände aus. An einen politischen Umbruch glaubt die Jugend nicht mehr.

Die Pieds-noirs und ihre Nachkommen, inzwischen wahrscheinlich 3,2 Millionen Stimmberechtigte, sind soeben für den französischen Wahlkampf entdeckt worden. Präsident Nicolas Sarkozy erinnert an ihren Albtraum der Alternative von Koffer und Sarg. Aber wie sein sozialistischer Gegner François Hollande bemerkt auch er plötzlich das Unrecht und die Vernachlässigung durch den französischen Staat, welches die Harkis erleben mussten.

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