"1948" von Yoram Kaniuk:"Klug waren wir nicht"

Jerusalem Day flag march

Im Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet.

(Foto: dpa)

In diesen Wochen feiert Israel seine Staatsgründung vor 65 Jahren: Yoram Kaniuks Roman "1948" liest sich dennoch, als sei der Staat nur durch Zufall zustande gekommen. Zudem verweigert das Buch die Feier des Heroischen - wofür es viele Landsleute des Autors verdammen.

Von Thorsten Schmitz

Mit 17 Jahren hielt Yoram Kaniuk zum ersten Mal in seinem Leben eine Waffe in der Hand und schoss auf Menschen, die er nicht kannte. Mit 17 Jahren zog er tote Kameraden aus einem Panzerwagen, "sie sahen aus wie Fleischstücke in der Metzgerei". Mit 17 Jahren sah er einen Kameraden der Palmach, der von Arabern gehenkt worden war, das abgetrennte Geschlechtsteil in seinen Mund gesteckt. Mit 17 Jahren erreichte Kaniuks Kompanie das umkämpfte Jerusalem, und in den jüdisch-orthodoxen Vierteln wurden sie mit Steinen beworfen - weil Schabbat war.

Über 60 Jahre hat es gedauert, bis sich Kaniuk traute, seine Erinnerungsschachtel zu öffnen und aufzuschreiben, wie er den Krieg von 1947/1948 erlebte. Einen Krieg, der im Mai 1948 zur Gründung Israels führte und den die Araber bis heute als "Nakba" (Katastrophe) bezeichnen. Schon der erste Satz seines Reports stellt klar: "Es war einmal oder auch nicht, so oder anders, keine Erinnerung hat einen Staat, kein Staat hat eine Erinnerung."

Was ist wahr, was Erfindung? Was hat sich tatsächlich zugetragen, was hat die Zeit geschönt? Wer war Kaniuk vor über 60 Jahren, als 17 Jahre alter Kindersoldat in der jüdischen Untergrundorganisation Palmach? Der Schriftsteller hat eine elegante, faszinierende Form gefunden für seine Memoiren: Der 83 Jahre alte Kaniuk von heute beschreibt den Kaniuk von damals. Der damals selbstgerechte Bub wird von dem heute weisen und selbstkritischen Autor beschrieben. Das Buch soll Roman sein, ist in Wahrheit aber: Autobiografie.

Kritik im eigenen Land

Kaniuk verleiht dem Yoram von damals die Stimme und die Gedanken des Kaniuk von heute. Er räsoniert, nörgelt, lamentiert, weint, lacht, fürchtet sich und hat vor nichts Angst. Das Größte für den jungen Kaniuk damals war: Als junger Soldat den Heroentod sterben. Das Sinnloseste für den alten Kaniuk heute ist: Kriege führen, sich gegenseitig töten. Sein Buch ist auch ein Pamphlet zum Waffeneinmotten. Für das Buch, das in Israel vor drei Jahren erschienen ist, hat Kaniuk den hochdotierten Sapir-Literaturpreis gewonnen. Es hat ihm aber auch viel Kritik eingebracht: In Israel gibt es viele, die Kaniuks Buch verdammen, weil es ihre faltenlosen Erinnerungen trübt.

Der Kaniuk von damals bricht mit 17 Jahren das Gymnasium ab und meldet sich freiwillig zum Dienst in der Palmach. Heute schreibt er: "Klug waren wir nicht. Kluge Menschen gehen nicht mit siebzehn, achtzehn oder auch zwanzig Jahren freiwillig in den Tod. Kluge Menschen geben bestehenden Staaten den Vorzug vor erträumten. Kluge Menschen rackern sich nicht ab, um neue Staaten in einem heißen Landstrich zu gründen, der von arabischen Einwohnern wimmelt und inmitten feindseliger arabischer Staaten liegt." Zwei Stimmen wohnen in Kaniuks Brust. Als die Truppe des jungen Kaniuk Jerusalem erreicht, spricht der Kaniuk von heute: "Man muss ein Vollidiot sein, ja mehr noch als das, um durch Minenfelder zu laufen und zu glauben, das sei für die Nation, zumal ich diese noch gar nicht persönlich kennengelernt hatte."

Ernüchterter Schriftsteller

Solche unverschämten Sätze entsprechen nicht dem offiziellen Erinnerungskanon Israels, sondern einem ernüchterten Schriftsteller, der nach Israels Staatsgründung einer Verwundung wegen in die USA fuhr und dort zehn Jahre blieb. Da spricht auch der Kaniuk, der vor kurzem in Israel für Aufregung sorgte, weil er vor dem Obersten Gerichtshof erstritten hat, dass in seinem Pass als Religionszugehörigkeit nicht mehr "jüdisch" steht - Kaniuk hatte damals in den USA seine nicht-jüdische Ehefrau kennengelernt und findet es bis heute ungerecht, dass seine Kinder und Enkelkinder deshalb als nicht jüdisch gelten.

"1948" unterscheidet sich fundamental von Israels offizieller Staats-Chronik. Jedes Jahr feiert sich das Land und seine Unabhängigkeit, mit Feuerwerken, Flugparaden über den Stränden, Grillparties und epischen Heldengeschichten. Allerdings gibt es auch bei den Palästinensern heute nur eine Geschichtsschreibung: Die von der "Nakba". Sie blendet etwa aus, dass es die arabischen Staaten waren, die den UN-Beschluss von 1947 ablehnten, Palästina in einen jüdischen und in einen arabischen Staat zu teilen.

Bruch mit der eindimensionalen Geschichtsschreibung

Israel schöpft aus den Heldengeschichten seine Kraft und formt damit eine gesamtgesellschaftliche Identität des Zusammenhalts. In "1948" bricht Yoram Kaniuk diese eindimensionale, staatlich orchestrierte Geschichtsschreibung. Eine der eindrucksvollsten Passagen des Buches beschreibt, wie er die Städte Ramla und Lud erlebt hat. Ramla und Lud waren früher komplett arabisch bevölkert. Als der junge Kaniuk Anfang 1948 in Ramla eintrifft, findet er einen leeren und mit Stacheldraht eingezäunten Ort vor, "ein großer Besen war durch die Stadt gefahren und hatte alle hinweggefegt, Kinder, Frauen, Alte, Junge, nur ihre Hohlräume hinterlassen".

Es ist eine apokalyptische Szene, die Kaniuk beschreibt. So hat man noch nie vom Unabhängigkeitskrieg gelesen: "In den Häusern sah man gedeckte Tische, ein Kamel kaute langsam, schien nicht zu begreifen, wohin sein Besitzer verschwunden war, Esel irrten iahend durch die öden Straßen." Kaniuk trifft einen israelischen Soldaten und fragt: "Wer hat ihnen verboten, in Ramla zu sein, es ist ihre Stadt gewesen." Aus dem Soldat spricht das neue Israel: "Sei kein Dummkopf, sie ist es nicht mehr."

Zwei Tage später kommen Hunderte Holocaust-Überlebende in Lastwagen, viel zu warm gekleidet für den heißen Sommer: "Sie gingen nicht auf die leeren Häuser zu - sie stürzten sich darauf! Sie erstürmten sie hungrig, gierig, während die Eigentümer fern hinterm Zaun standen, sich sehnlich zurückwünschten." Kaniuk ordnet ein, was er sieht, allerdings mit seinen zwei Stimmen: "Der Anblick der Juden, die jedes Haus in Beschlag nahmen, war grauenhaft, aber auch von einer menschlichen Schönheit, die sich jedem Urteil entzog."

Grandios und gefühlvoll übersetzt

Kaniuks Roman liest sich, als sei Israel nur durch Zufall zustande gekommen. Er schreibt von kampfdurstigen, aber kampfunerprobten Befehlshabern, von faulen Kriegern und Offizieren, die in Dünen Prostituierte treffen. Grandios und gefühlvoll hat Ruth Achlama Kaniuks "1948" vom hebräischen Original ins Deutsche übertragen. Seine Rückblenden sind so gestochen scharf, als habe er eine Lupe über die Kriegswochen gehalten.

Mit einer Lupe betrachtet Kaniuk auch das heutige Israel: In dem jüdischen Staat ist die Palmach ein Mythos. Doch auch vor diesem Mythos macht Kaniuk nicht halt. Mit seinem Buch kratzt er an der dicken Schicht aus Staatsgründungsepos und beschreibt, mit einem Schuss Ironie, wie sich die Palmach-Veteranen heute selbst belohnen: Mit Palmach-Museen, Palmach-Gedenkkongressen und Palmach-Filmen. Kaniuk stellt fest, dass es heute mehr Palmach-Kämpfer gebe als damals: "Sie haben sich nach dem Tod auf wundersame Weise vermehrt!"

Immer wieder schreibt Kaniuk, dass er sich geirrt haben mag in diesem oder jenem Detail. Aber er weiß auch, dass das nicht ausschlaggebend ist: "Ich bin nicht sicher, woran ich mich tatsächlich erinnere, traue dem Gedächtnis ja nicht, denn es ist trügerisch und enthält mehr als eine Wahrheit. Und warum sollte die Wahrheit so wichtig sein? Eine Lüge, die aus der Suche nach Wahrheit entsteht, kann wahrer sein als die Wahrheit selbst."

Yoram Kaniuk: 1948. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Aufbau Verlag, Berlin 2013. 248 Seiten, 19,99 Euro.

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