Süddeutsche Zeitung

Vom Spielzeug bis zum Reichstag:Das wahre Kunstwerk lebt im Kopf

Lesezeit: 4 min

Christo und Jeanne-Claude haben mit kleinen Objekten angefangen, ihre großen Projekte hingegen bleiben nur als Zeichnung oder Fotografie.

Von Sandra Danicke

Es war am 3. August 1968 um vier Uhr nachts, als die Wurst endlich in den Himmel ragte. Beim vierten Versuch hatte es schließlich geklappt. Das 85 Meter hohe Wahrzeichen der Documenta IV richtete sich über der Karlswiese in Kassel auf. Eigentlich heißt das Kunstwerk von Christo und seiner Frau Jeanne-Claude (die damals allerdings noch nirgendwo als Mit-Urheberin erwähnt wurde) "5600 Cubic Meter Package", aber so nannte es damals keiner. Wer nicht Wurst dazu sagte, sagte Monster-Zigarre oder Super-Salami. Verpackte Luft wäre zwar korrekter gewesen, aber es gehört nun mal zu den Eigenschaften von Wahrzeichen, dass die Bevölkerung für sie eigene Namen erfindet. Und Wurst traf die Optik des Objektes allemal besser als die Wort-Kreation des Wochenmagazins Der Spiegel, das neckisch von einem "Über-Phall" sprach.

Was die Urheber mit ihrer temporären Skulptur genau sagen wollten, wusste damals keiner so recht, und eigentlich war es auch gar nicht wichtig. Interessanter waren die Umstände ihrer Entstehung - dreimal war die Plastikpelle der Wurst zuvor bereits gerissen, die Realisierung stand lange Zeit auf der Kippe - und der Eindruck, den der Künstler machte. "Aus einem Kasseler Hotel musste Christo ausziehen. Gäste hatten sich über die langen Haare des 1935 in Bulgarien geborenen und in New York lebenden Künstlers beschwert", schrieb die "Hessische Niedersächsische Allgemeine" in einem Vorbericht. Auf Fotos sieht man, dass die Haare gerade mal den Hemdkragen im Nacken berühren. Damals wurde das noch als Protest gegen das Establishment aufgefasst.

1968 war Christo noch lange kein Star-Künstler, aber sein überdimensionales Werk für Kassel schlug Wellen. Jeder - vom Bauarbeiter bis zum Zahnarzt - hatte eine Meinung dazu, fand es verrückt, großartig, lächerlich. Ein fundamentales Wissen über Kunst und ihre Geschichte war von den Betrachtern der Luft-Skulptur nicht gefragt. Man musste nicht einmal ein Museum betreten, um sie zu sehen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Christo bereits seit zehn Jahren Gegenstände in Folie oder Stoff verpackt, darunter Bürostühle, Telefone oder Magazinstapel, um auf diese Weise nicht nur die Form alltäglicher Dinge zurück ins Bewusstsein zu bringen, sondern auch die Fantasie anzuregen. Von straff geschnürten Päckchen, die den Umriss des Inhalts verrieten, ging er zu loseren Verpackungen über, die die Gestalt des Inhalts partiell veränderten und ihn so zum Geheimnis erklärten. Christo verpackte Dosen, Stühle, Schminktische, und als Jeanne-Claude einmal ihre Schuhe suchte, gestand er, auch diese verpackt zu haben. Sogar eine lebende Frau hatte Christo schon verpackt, bevor er sich schließlich an die vertrackte Luft-Wurst wagte.

"5600 Cubic Meter Package" war nicht das erste Projekt, das Christo und Jeanne-Claude im Außenraum realisierten. Bereits 1961 hatten sie in Köln, wo sie in einer Galerie-Ausstellung unter anderem einen verpackten Renault, zwei Klaviere, einen Teekessel und eine Schreibmaschine ausstellten, ihr erstes ortsspezifisches Werk im Freien geschaffen: "Dockside Packages" bestand aus einem Stapel aus Fässern und Papierrollen, den sie am Rheinufer zufällig entdeckt und mit Planen verhüllt hatten. 1962 folgte mit "The Iron Curtain" eine temporäre Mauer aus Metallfässern in Paris. Letztere führte zu einer nicht genehmigten Straßensperrung und entsprechendem Ärger. Danach verhüllten die beiden eine Reihe von Vitrinen und Schaufenstern in ihrer neuen Heimat New York.

Doch die Luft-Wurst war in mehrfacher Hinsicht ein Meilenstein, ein Werk, an dem sich die Arbeitsweise, die die beiden jahrzehntelang beibehalten sollten, erstmals herauskristallisierte. Schon früher hatte das Paar mit dem Verpacken von Luft experimentiert. Das hatte allerdings nie so recht funktioniert, weil das Gewicht der Ballons stets so groß war, dass sie nicht aufsteigen konnten. Das Werk für die Documenta war das erste "Air Package", das tatsächlich in der Luft blieb. Und es war auch das erste Mal, dass das Paar für die Realisierung auf eine große Anzahl von Profis angewiesen war - Ingenieure, Statiker, Politiker, Anwälte und Hersteller, selbst die Kasseler Feuerwehr war involviert. Fünf Kräne hielten den mit 3500 Metern Seil umwickelten Schlauch aus 2000 Quadratmetern Trevira in Position. Zwei davon - die größten in Europa - mussten eigens aus Frankreich und Hamburg angeliefert werden.

Immer wieder brachten Aktivisten ökologische Bedenken mit ins Spiel

Nie zuvor war die Öffentlichkeit in vergleichbarem Grade in den Schaffensprozess eines Kunstwerks involviert - und sei es nur, dass sie das Geschehen genau verfolgte. Dasselbe gilt umso mehr für alle späteren Projekte, die zuverlässig für leidenschaftliche Diskussionen sorgten. Immer wieder brachten Bürger oder Aktivisten ökologische Bedenken ins Spiel, wurden Gutachten oder Genehmigungen eingefordert und geliefert. Immer wieder wurde darüber gestritten, ob ein so gigantisches Werk an dem jeweiligen Ort machbar und vor allem, ob es wünschenswert sei.

Das Luft-Paket von Kassel war damals die höchste Plastik der Welt - obwohl es beim Kasseler Regierungspräsidenten offiziell als "stationäres Luftfahrzeug" registriert war. 56 000 Dollar kostete das Projekt, die Documenta übernahm davon 3000. Den Rest finanzierte das Paar mit Verkäufen von Zeichnungen und Collagen. Auch dies eine Vorgehensweise, die Christo und Jeanne-Claude für künftige Projekte beibehielten. Sponsoren lehnte das Duo stets vehement ab.

Mit den Jahren nahmen die Projekte von Christo und Jeanne-Claude immer größere Dimensionen an. Sie verpackten Brücken und gigantische Gebäudekomplexe, umsäumten Inseln, errichteten kilometerlange Stoffzäune - immer unter eigener Regie und auf eigene Kosten. Oft dauerte es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, bis sich ein Projekt tatsächlich realisieren ließ.

All dies taten sie, ohne dass man genau festmachen konnte, was die Künstler damit bezweckten. Ging es um Größenwahn? Darum, die Bürokratie herauszufordern? Oder schlicht darum, Träume zu verwirklichen? In jedem einzelnen Fall boten sich zudem zahlreiche ortsspezifische Interpretationsmöglichkeiten an, es war nur keine davon zwingend. Jedes Werk konnte immer auch etwas völlig anderes bedeuten; jeder, der eine Idee dazu hatte, hatte auf seine Weise recht. Das Betörende und zugleich Verstörende an nahezu allen dieser stets vorübergehenden Aktionen war: Sie waren atemberaubend schön; die visuelle Wucht überstrahlte jede inhaltliche Bedeutung. Wer die Installationen gesehen hat, war beeindruckt von Ausmaß und Wirkung. Von der überraschenden Poesie, die künstliche Materialien im Außenraum erzeugen können. Von der Fragilität, die ein gigantisches Unterfangen ausstrahlen kann.

Christo und Jeanne-Claude brachten Menschen zur Kunst, die das von sich selbst nicht gedacht hätten. Das macht die Werke zugleich höchst verdächtig. Kann es tatsächlich sein, dass etwas, das von substantieller Qualität ist, so gut aussieht? Die, die vor Ort waren, wissen es, und sie werden es nicht vergessen. Das nämlich ist eine der großen Stärken der Projekte von Christo und Jeanne-Claude: dass sie einfach so verschwinden und nur in den Köpfen der Menschen weiterexistieren.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4925455
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 05.06.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.