Süddeutsche Zeitung

"Vom Ende einer Geschichte" im Kino:Was, wenn mein Leben eigentlich ganz anders war?

  • "Vom Ende einer Geschichte" erzählt von einem Mann, der sich fragt, ob er sich seine Vergangenheit zurechtbiegt.
  • Der Film nach einer Romanvorlage von Julian Barnes ist besetzt mit Charlotte Rampling, Emily Mortimer und Jim Broadbent.
  • Regisseur Ritesh Batra inszeniert den Film mit viel Gefühl für beiläufige Blicke und zarte Zwischentöne.

Von Susan Vahabzadeh

Das Leben ist wie eine Reise im Schnellzug, die Dinge draußen vor dem Fenster rauschen viel zu schnell vorüber, als dass man immer genau wüsste, was man sieht. Das, was uns entgangen ist, setzen wir vor dem inneren Auge zusammen. So fließen in das fertige Bild nicht nur die Wirklichkeit ein, sondern Sehnsüchte und Wünsche, Furcht und Selbstschutz.

Anthony Webster, Tony genannt, der stille Held des Films "Vom Ende einer Geschichte", betreibt ein Fotogeschäft, weil Fotografieren seine Leidenschaft ist. Als junger Mann hat er begonnen, mit dieser Methode Augenblicke zu konservieren, akkurate Abbildungen der Wirklichkeit zu schaffen. Man kann das, glaubt er, nicht mit einer Digitalkamera - man braucht eine Leica. Auf diese alten Fotoapparate hat er sich spezialisiert, allein sitzt er in seinem kleinen Geschäft. Er ist ein Mann im Rentenalter, und wenn kein Kunde seine Leidenschaft mit ihm teilen möchte, ist das auch in Ordnung.

Überhaupt ist alles in Ordnung, es geht ihm gut, er versteht sich noch mit seiner Ex-Frau, seine Tochter bekommt bald ein Kind. Tony begleitet sie zum Geburtsvorbereitungskurs, sie bekommt ihr Baby allein. Sie glaubt, er werde sie vor dem lesbischen Paar im Kurs bis auf die Knochen blamieren, aber da hat sie ihn unterschätzt. Seine Tochter will er nicht vergrätzen, und Tony weiß, wie man ohne große Dramen durchs Leben kommt. Ein perfektes Mittelklasseleben, ohne große Ausschläge nach oben oder nach unten.

Da bekommt er eines Tages einen Brief, der ihm die Vervollständigung eines sehr ungenauen Bildes verheißt: Tony hat ein Tagebuch geerbt. Vor Jahrzehnten, kurz nachdem er das Fotografieren für sich entdeckt hatte, hat sich Adrian, einer seiner engsten Freunde, das Leben genommen. Man hat erst gar nicht den Eindruck, dass da alte Wunden wieder aufgerissen werden, was Tony treibt, scheint reine Neugier zu sein. Adrian hatte so klare Ansichten darüber, dass man die Dinge von allen Seiten beleuchten muss, um sie zu verstehen.

Anfangs macht das Schwelgen in der Vergangenheit Spaß, aber dann wird es schnell düster

Der Regisseur Ritesh Batra hat für "Vom Ende einer Geschichte" einen Roman von Julian Barnes verfilmt, dessen Lieblingsthema die subjektive Sicht der Dinge ist. Batra inszeniert das mit viel Gefühl für beiläufige Blicke, kaum wahrnehmbare Gesten und zarte Zwischentöne. Schon im vergangenen Jahr hat er einen wunderbar zurückhaltenden Film über das Altwerden gemacht, "Unsere Seelen bei Nacht", mit Jane Fonda und Robert Redford als Paar, das am Ende des Lebens auf der Suche ist nach etwas, was die Angst vor der Dunkelheit ein wenig erträglicher macht. Jetzt spürt Batra einem ganz anderen Aspekt nach, jenem, der den Autor der Vorlage interessiert hat: Wie ist das mit der Erinnerung? Wissen wir wirklich selbst am besten, wie unser Leben verlaufen ist, oder biegen wir die Vergangenheit zurecht?

Batra erforscht das Altwerden anhand von Schauspielern, die selbst nicht mehr ganz jung sind. Eine fantastische Besetzung hat er zusammengetrommelt, im Zentrum steht Jim Broadbent als Anthony Webster. Er dominiert fast jede Szene, mit einer Mischung aus Melancholie und Witz, man könnte sagen: melankomisch. Harriet Walter spielt seine herbe, bärbeißig fürsorgliche Ex-Frau Margaret, und Charlotte Rampling ist Veronica, die Tony das Tagebuch verweigern wird, das er geerbt hat. Tony bittet Margaret, die ihm immer noch nähersteht als irgendwer sonst, um Hilfe, denn sie ist Anwältin. Aber sie ist eben auch seine Ex-Frau, und sie stellt fest, dass es ziemlich viel gibt, was sie nicht weiß.

"Vom Ende einer Geschichte" ist die Sorte Film, die wenig Aufhebens darum macht, wie sie erzählt ist. Die Versatzstücke der Erinnerung sind ein bisschen blasser und dunkler gefilmt als die Rahmenhandlung, und sie drängen nach und nach an die Oberfläche.

Erst nur als ganz einfache Fakten, dann aber, weil Margaret bei jeder Begegnung wieder nachfragt, was sie nicht versteht, als immer schmerzlichere Details. Erinnerungsschleifen nennt Barnes es, wenn man um die Vergangenheit herumschleicht, ohne auf den wirklich entscheidenden Punkt zu kommen. Veronica war einmal seine Freundin, erzählt Tony, sie war aber nicht so wichtig, denn er sei gar nicht richtig in sie verliebt gewesen. Schon der erste Flashback, die erste Begegnung, zeigt das Gegenteil.

Immer mehr Bilder, die er tief in sich selbst konserviert hatte, drängen ans Licht. Da sind seine Schulfreunde, die immer gleiche Bar in London, in der sie sich noch heute treffen, ein Wochenende auf dem Land, bei Veronicas Eltern, das Winken ihrer Mutter (Emily Mortimer), ihr Lachen, das Augenzwinkern. Sie ist diejenige, die Tony das Tagebuch vermacht hat, obwohl sie ihn nie wieder gesehen hat.

Anfangs sind die Erinnerungen schön; aber je tiefer Tony gräbt, desto düsterer werden sie. Es hat natürlich doch ein großes Drama gegeben, aber an die Details muss Veronica Tony erst erinnern, als er sie endlich ausfindig macht.

Julian Barnes hat, in einem ganz anderen Buch, einmal über die Auseinandersetzungen mit seinem Bruder geschrieben. Die beiden können sich nicht einigen auf ihre Kindheitserinnerungen, und der Bruder besteht darauf, dass keine Erinnerung viel taugt ohne eine Verifizierung von außen. Alles andere wäre sozusagen das postfaktische Ich.

Die Filmemacher weichen an vielen Stellen von der Romanvorlage ab

Der Umgang mit Verifizierbarkeit (oder ihrer Abwesenheit) hat dieser Tage einen merkwürdigen Beigeschmack entwickelt - diese Vorstellung, dass alles immer nur eine Frage der Perspektive ist.

Weder Barnes noch Batra haben die gemeine Lüge im Sinn, sie erzählen von einer Geschichtsklitterung, die sich ausschließlich nach innen wendet. Ob Tony sich bewusst war, was er getan hat, macht für den Lauf der Dinge keinen Unterschied. Schlimmer noch: Seine Rolle im Leben der Menschen, von denen die eigentliche Geschichte handelt, war viel kleiner, als er dachte. Letztlich ist die Verdrängung, mit der Tony manche Details aus der Zeit mit Veronica und nach Veronica in die unterste Schublade seines Hirns verbannt hat, reiner Selbstschutz, eine Art Schmerzmittel.

Das Drehbuch von Nick Payne weicht an vielen Stellen von Barnes' Vorlage ab, wer eine akkurate Illustration des Romans erwartet, wird von der Filmfassung enttäuscht sein. Aber dem Geist der Geschichte bleiben die Filmemacher treu. Das Leben sorgt schon dafür, dass wir seinen Verlust aushalten. Jede Geschichte, auch jene, die Tony sich selbst erzählt, hört irgendwann auf. Aber das Gefühl, dass es für sie irgendein befriedigendes Ende geben kann, erzeugt das noch lange nicht.

The Sense of an Ending, GB/USA 2017 - Regie: Ritesh Batra. Drehbuch: Nick Payne. Kamera: Christopher Ross. Mit: Jim Broadbent, Charlotte Rampling, Harriet Walter, Emily Mortimer, Michelle Dockery. Verleih: Wild Bunch/Central, 108 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 13.06.2018/luch
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