Süddeutsche Zeitung

Zwei Premieren der Berliner Volksbühne:Dünger für die Rettung der Welt

Lesezeit: 5 Min.

Antike trifft auf Klimakatastrophe, Wissenschaft auf Kunst: In "Anthropos, Tyrann (Ödipus)" und den "Metamorphosen" knöpft sich die Berliner Volksbühne den Menschen im Anthropozän vor.

Von Christine Dössel

Lange war nichts von der Berliner Volksbühne zu hören. Während andere Theater seit dem zweiten Lockdown eine Premiere nach der anderen streamen, schien die Mannschaft von Klaus Dörr die Waffen gestreckt zu haben. Es ist die letzte Spielzeit des Interimsintendanten, im Sommer übernimmt René Pollesch mit einer Gruppe von Künstlerfreunden und Komplizinnen das Haus. Dann beginnt etwas Neues. Lohnt es sich da überhaupt, sich noch groß ins Zeug zu legen? Noch dazu ohne Öffnungsperspektive und Publikum? Die Frage erübrigt sich mit gleich zwei Inszenierungen, mit denen sich die Volksbühne jetzt im Februar zurückgemeldet hat. Beide groß, wuchernd, eklektizistisch, unter Rückgriff auf mythologische Stoffe. Beide zum selben Thema: der Mensch im Anthropozän. Wie (klima)katastrophal er sich aufführt. Wie nachhaltig er die Welt zerstört.

Bei Alexander Eisenach steckt der destruktive Protagonist des neuen Erdzeitalters schon im Titel: "Anthropos, Tyrann (Ödipus)" heißt, frei nach Sophokles, seine Parallelführung der drohenden Klimakatastrophe mit der antiken Tragödie. Viele dächten, die Tragödie sei tot, heißt es am Anfang. Dabei steckt der Anthropos doch mitten in einer drin. Es ist die Tragödie des Menschen, der "nicht länger Gegenstand des Lebens sein wollte, sondern Herrscher". Der Mensch als Antwort auf alles. Womit wir bei Ödipus wären, der genau mit dieser Antwort das Rätsel der bösen Sphinx löste und daraufhin zum Herrscher Thebens wurde. Als eine Seuche die Stadt heimsucht, muss er erfahren, dass er selber es ist, dessentwegen die Götter einen Fluch über Theben verhängt haben. Ödipus, der nicht wissend den eigenen Vater erschlagen, die eigene Mutter geehelicht, alle warnenden Vorhersagen falsch verstanden hat. Auch der Anthropos, sein später Nachfahre, muss angesichts des Klimawandels erkennen, dass er selber der Schuldige ist. Und er Gegebenheiten ausgeliefert ist, die wirkungsmächtiger sind als er.

Alexander Eisenach und sein Ensemble kämpfen wie "Fridays for Future"-Aktivisten für die gute Sache

Das bildet die Basis für einen Theaterabend, der schrecklich aufgeregt und Fridays-for-Future-demonstrativ für die gute Sache kämpft - unter Aufbietung starker und weniger starker, teils auch plumper Mittel, in der Hoffnung, sie würden geheiligt durch den Zweck. Eisenach und sein siebenköpfiges Ensemble (plus zwei Musiker) legen einen aktionistischen Furor an den Tag, als ginge es um nichts Geringeres als die Rettung der Welt. Wie die Erde dreht sich auch dieses "digitale Theaterexperiment" um die eigene Achse. Um 360 Grad. Eine entsprechende Kamera in der Mitte der Bühne macht es möglich, dass die Zuschauer zu Hause an ihrem PC oder Tablet mit dem Blick frei umherschweifen können, nach links, rechts, oben, hinten, man muss nur entsprechend navigieren.

Das ist ein bisschen anstrengend, aber reizvoll neu. Das Schönste daran: endlich mal wieder in der Volksbühne zu sein, diesem so legendären wie legeren Haus, dank der Live-Videotechnik (vom Büro "die Verbreiter") sogar mitten auf der Bühne, als sei man selber Teil des Geschehens. Der Blick fällt auf das große, leere Parkett mit der intarsiengeprägten Wandtäfelung. Was für eine Sehnsucht kommt da auf!

Aber für Nostalgie ist keine Zeit, der "Anthropos" führt sich raumgreifend auf. Die Inszenierung ist ein blubbernder Mix aus Antikenbeschwörung und Gegenwartsbefragung, Tragödienspiel und Lecture-Performance, hohem Ton und Wissenschafts-Speak, ein Kladderadatsch aus Mythen, Fragen, Klagen, Fakten. Entsprechend versatzstückhaft sind Bühne und Kostüme. In einer Art überdimensionalem Legoland wird ein antikes Säulenhalbrund ebenso zitiert wie ein knallbunter Ölförderturm, die Schauspieler tragen mal Seuchenschutzanzüge, mal antikisierende Gewänder, dazu jede Menge Masken: Theatermasken, Stabmasken, Tiermasken, einmal schleppen sie auch die riesengroße Gipsmaske des geblendeten Ödipus an. Mit einem Wattestäbchen, groß wie ein Paddel, wird daran ein PCR-Test vorgenommen.

Alexander Eisenach hat sich für diesen Hybrid mit dem "Theater des Anthropozän" der Humboldt-Universität zu Berlin zusammengetan, namentlich mit der Wissenschaftlerin Antje Boetius - sie ist Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung und bringt an diesem Abend ihren Expertinnen-Input persönlich ein - und dem Dramaturgen Frank M. Raddatz. Der formuliert im digitalen Programmheft in aller Verblasenheit den philosophisch-intellektuellen Unterbau von det Janzem. Womit er eigentlich nur sagen will: "Wissenschaft meets Kunst", wenn möglich auf Augenhöhe.

Die Meeresbiologin spielt das Orakel und liefert als Seherin die Fakten

Der pädagogische Belehrungs- und Bekehrungseifer der Inszenierung - mit der Meeresbiologin als Orakel, Seherin, Faktenlieferantin - geht einem zwischendurch schwer auf den Zeiger. Und doch kann man den Abend nicht einfach abtun, bleibt man dran, weil er eine unverfrorene Chuzpe und tatsächlich ein Anliegen, sogar Lösungsansätze hat. Außerdem funktionieren die Textverschränkungen zwischen aktueller Öko-Bilanz und den Sophokles-Passagen erstaunlich gut. Und dann ist da noch eine entzückende Antigone (Vanessa Loibl), die gegen Kreons "Wohlstandserzählung" mit der Unbeirrbarkeit einer Greta Thunberg argumentiert.

Am Krisenherd unserer Zeit kocht auch Claudia Bauer ihren Mytheneintopf "Metamorphosen [overcoming mankind] nach Ovid & Kompliz*innen". Und setzt dafür einen großen szenischen Hexenkessel auf. Klimawandel, Ressourcenausbeutung, Kapitalismus, Geschlechterkrise, Corona: alles verarbeitet in einem toxischen Sud, dessen Grundzutaten Ovids "Metamorphosen" sind. Bauer greift sich vor allem jene Verwandlungsgeschichten aus dem umfangreichen Werk, die von toxischer Männlichkeit und sexueller Gewalt gegenüber Frauen erzählen. Und weil Ovids mythologische Dichtung auch eine Schöpfungs- und erdzeitalterliche Verfallsgeschichte ist, setzt die Regisseurin sie in Bezug zum Anthropozän als der kaputtesten aller Welten: "Willkommen im Zeitalter der Seltenen Erden, ihr Kackbratzen!"

18 Jahre älter als der 1984 geborene Eisenach und zuletzt mehrmals zum Berliner Theatertreffen eingeladen, ist Claudia Bauer in ihrem Zugriff handfester, stilsicherer, abgeklärter, aber auch abgefuckter, abgeschmackter. Ihr Abgesang auf die Menschheit in Form einer grotesk expressiven Nummernrevue ist auch einer auf die alten Volksbühnen-Götter. Da gibt es Backstage-Livebilder und Close-up-Gesichter auf großer Videoleinwand wie bei Frank Castorf, exzentrische Körperballette und Verrenkungsakrobatik wie bei Herbert Fritsch, und das Figurenpersonal ist in seiner Retro-Anmutung typisch Marthaler, nur viel obszöner. Bauer zitiert und kopiert den alten Volksbühnen-Stil, was das Flickzeug hält und das Mashup-Prinzip hergibt. Ihre Inszenierung spielt in einem Bühnenbild, das die denkmalgeschützten Wandpaneele des Volksbühnen-Parketts auf der Bühne fortführt. Das ist auch ein bisschen Ikonenschändung und Anti-Geniekult-Satire und kulturelle Appropriation einer endlich mal in diesem Männertheater Regie führenden Frau. "Erschaffen ist Illusion", heißt es bei ihr ganz am Ende. "Ist doch alles schon da!"

So frech der Gestus, so angestrengt und ermüdend ist er aber auch. Im parodistischen Menschheitszirkus, den Bauer zu live gespielter Balkan-, Barock- und Tangomusik entfesselt, springt schon deshalb lange kein Funke über, weil die Schauspieler über weite Strecken nur aufgekratzt nachspielen, was die Erzählerin oben auf der Leinwand an Urstoff vorgibt: sagenhafte Schändungs-, Gräuel- und Trauergeschichten von Göttern, Menschen, Nymphen, Dämonen. Bauers Schauspieltrupp bebildert das alles im Stil einer übertriebenen Theaterklamotte, mit angeschnallten Hängebrüsten und Riesenvulvas und überschäumender Testosteronenergie.

Seine Stärken hat dieses Mythen- und Zitatenkabarett dort, wo es selber etwas zu sagen und zu fragen hat. Lustig die Verschwörungsmythenszene, wenn in "C:Ovid 19" der Autor Ovid ausgemacht wird. Schön auch, wie die "Metamorphosen" hier in das "tentakuläre Zeitalter" erweitert werden, das die Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway in ihrem Buch "Unruhig bleiben" beschwört. Heißt: Nicht als Individuen werden wir das Anthropozän überwinden, sondern nur in der Verbindung, im "Mit-Werden" mit anderen Arten.

Im utopischen Schlussbild öffnet sich die Bühne in ihrer ganzen Tiefe zu einem ironisch-versöhnlichen Showfinale. Zu sehen sind als Pappstellagen im Stil griechischer Büsten die riesenhaften Konterfeis der letzten und künftigen Volksbühnen-Intendanten: die Cäsaren Castorf, Dercon, Dörr und Pollesch. Sie werden umtanzt von Glitzerwesen, die im Sinne von Donna Haraway nicht mehr auf den männlichen Schöpfer und Erlöserhelden setzen. Sondern auf eine große Transformation. "Human" kommt laut Haraway ohnehin nicht von "homo", sondern von "Humus". Insofern sind wir nichts weiter als Kompost. Dünger für Neues.

Die nächsten Streaming-Termine von "Anthropos, Tyrann (Ödipus)" und "Metamorphosen [overcoming mankind] finden Sie hier .

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