Voguing:Ultrafeminines, flamboyantes Posen

Voguing: Auch die britische R&B-Sängerin FKA twigs zeigt gerne halsbrecherisch elegante Voguing-Figuren: Szene aus ihrem aktuellen Video "Glass & Patron".

Auch die britische R&B-Sängerin FKA twigs zeigt gerne halsbrecherisch elegante Voguing-Figuren: Szene aus ihrem aktuellen Video "Glass & Patron".

(Foto: Young Turks)

Der New Yorker Tanzstil "Voguing" ist so etwas wie das schwule Pendant zum Breakdance - aber noch lange nicht gleichberechtigt.

Von Jan Kedves, Berlin

Eine Handvoll Glitter, ein Spotlight und eine Windmaschine. Mehr braucht es nicht, um den Eindruck von Glamour und erhabener Eleganz zu erzeugen. Doch die Attitüde muss stimmen: Blicke, Handhaltung, das Zusammenspiel von Schulterdrehung und Kopfneigung - all das ist entscheidend. Die Tänzer, die am Wochenende in Berlin im Theater HAU2 beim "Jingle Ball", einer Mischung aus Tanzwettbewerb, Modenschau und Party, gegeneinander antraten, hatten keine Probleme damit.

Es waren junge Frauen, junge Männer und junge Menschen unbestimmten Geschlechts aus Bratislava, Moskau, London, Amsterdam, Florenz, Hamburg, Wien, Stockholm. Manche schwarz, manche weiß, Musliminnen aus Paris waren dabei und Chinesen aus Guangzhou - unterschiedliche Menschen, aber allesamt: Experten des Voguings.

Voguing, das ist ein flamboyanter, auf Dehnbarkeit abzielender Tanzstil, der den Eindruck von Luxus und Opulenz erzeugen will. Diese Variante des Disco-Tanzstils entstand in den 70er-Jahren in den Clubs und Ballsälen von Harlem. Der Name kommt vom Modemagazin Vogue. Auch weniger popkulturell Interessierte werden sich noch an Madonnas Video "Vogue" erinnern, in dem schwarze und latino-amerikanische Tänzer mit den Armen wedelten und mit den Händen ihre Gesichter rahmten, so als würde Richard Avedon gerade ein Porträt von ihnen schießen. Irgendwie kunstvoll. Als das "Vogue"-Video ein Hit war, 1990, staunte man darüber, dass sich schwule Männer in New York Modelposen abgeschaut und sie zu Beats rhythmisiert hatten.

Doch dann war Madonnas "Blond Ambition"-Tour vorbei, der Dokumentarfilm "Paris Is Burning", der 1991 einen Blick in die New Yorker Szene warf, wieder aus den Kinos verschwunden, und es schien, als sei auch Voguing vorüber. Wie hätte man auch mitbekommen sollen, dass der Tanz immer weiter praktiziert wurde und in einer permanenten Evolution immer akrobatischere, dramatischere Stile hervorbrachte? Alles änderte sich 2005 mit YouTube. Und 2006 mit Facebook.

Seit der Digitalisierung ist die Voguing-Szene global und vernetzt. Neue Figuren werden bei Balls in Philadelphia oder in Chicago vorgeführt und in Paris oder Berlin aufgegriffen. Voguing-Bälle haben etwas von Familienzusammenkünften, allzu nett sollte man sich das aber nicht vorstellen: Innerhalb der Wahlverwandtschaften wird hart um Hierarchien gefochten. In Berlin ist es das "House of Melody", gegründet von der Tänzerin Georgina Philp, das sich seit einigen Jahren verdient darum macht, den Tanz in Deutschland zu etablieren und zu fördern.

Mit Erfolg: Nicht nur waren die Tänzer und Tänzerinnen, die beim "Jingle Ball" im geometrisch akzentuierten "Old Way", im akrobatisch verdrehten "New Way" und im ultrafemininen "Vogue Fem"-Stil gegeneinander antraten, aus aller Welt angereist, es gab auch für diejenigen, die einfach nur zuschauen wollten, im Nu keine Publikumskarten mehr.

Glitterstaub auf der Glatze

In den USA erlebt Voguing gerade einen Boom wie schon lange nicht mehr. Anfang Dezember beispielsweise strahlte der Fernsehsender NBC "The Wiz Live!" aus, eine mit dem Cirque du Soleil koproduzierte Musical-Adaption des Klassikers "Der Zauberer von Oz", mit Stars wie Queen Latifah als Zauberer und Mary J. Blige als Böse Hexe des Westens. Angekommen in der Smaragdstadt, werden Dorothy, der Blechmann und Konsorten erst mal Zeugen eines grün glitzernden, die urbane Dekadenz illustrierenden Voguing-Spektakels, das von Protagonisten der New Yorker Szene choreografiert und vorgeführt wird. Der Computerhersteller Acer bewirbt sein neues Laptop im US-Weihnachtsgeschäft gerade mit einem Spot voller voguender Weihnachtsmänner.

Und wenn Missy Elliott als Gast in "Burnitup!", der jüngsten Single von Janet Jackson, rappt: "Kitty kat, meow, meow", dann ist das eine direkte Reverenz an Ballroom-MCs, die die Wettbewerber bei Voguing-Battles, ganz gleich ob männlich oder weiblich, mit imitierenden Geräuschen schnurrender Miezekatzen zu besonders schnurrenden Bewegungen animieren.

Voguing ist im Urban Dance als gleichberechtigte Disziplin angekommen

Natürlich gibt es auch Übersetzungsschwierigkeiten: Beim "Jingle Ball" sah doch einiges laxer aus, unpräziser. Man ist teilweise noch im Lernprozess. Oder zu präzise: Vor allem russische Teenagerinnen scheinen in den letzten Jahren Voguing als eine mehr Glamour versprechende Alternative zur rhythmischen Sportgymnastik entdeckt zu haben. Beim "Jingle Ball" bestaunte man ihre Spagat- und Biegekünste, doch klar wurde auch, dass die perfekte Ausführung von Figuren nicht automatisch zu Tanz führt - zu etwas, das einem Narrativ folgt und im Battle, also im Zweier-Wettbewerb, auch ein Bewusstsein für den Opponenten erkennen lässt.

Die Russinnen wurden von der Jury nach und nach aussortiert, mittels Schildern, die mit farbigem Weihnachtsschmuck beklebt waren: Grün für "Pass", weiter, Rot für "Chop", abgesägt. Der Gewinner am Ende: Kendall Miyake Mugler, ein schwarzer Pariser mit Glitterstaub auf der Glatze. Das Wirbeln und Sich-auf-den-Boden-fallen-Lassen der "Vogue Fem"-Kategorie gelang ihm mit Zehn-Zentimeter-High-Heels mühelos.

"Tanz ist immer eine Reflexion des Lebens", sagt Archie Burnett, der 56-jährige Veteran der New Yorker Szene. Er reist als Juror und Lehrer um die Welt, vermittelt sein Wissen, leitet Workshops. Burnett erzählte auch in Berlin viel darüber, wie Voguing in den Siebzigern in Manhattan teilweise in denselben Parks, an denselben Piers und in denselben Clubs praktiziert wurde wie das B-Boying - jener Tanzstil, der auch als Breakdance bezeichnet wird und neben DJing, Rap und Graffiti eine der Säulen der Hip-Hop-Kultur bildet. Burnett, selbst heterosexuell, sitzt als "Großvater des House of Ninja" ganz oben in der Hierarchie eines der traditionsreichsten New Yorker Voguing-Häuser, er ist die perfekte Vermittlerfigur zwischen der B-Boy-Szene mit ihren ultra-machistischen, breitbeinigen Codes und den schwulen Jungs des Voguings.

Dass Voguing im sogenannten Urban Dance als gleichberechtigte Disziplin, als verwandter Stil mit ähnlichen Wurzeln anerkannt wird, ist nicht selbstverständlich. Während es im Hip-Hop langsam normaler wird, dass es homosexuelle Rapper gibt - Cakes Da Killa und Mykki Blanco sind nur einige Beispiele -, gilt die Hip-Hop-Tanzszene als stark homophob. Es hat sich noch kein B-Boy-Profi geoutet, es gibt nur Gerüchte. Um von diesem Stigma und Lagerdenken ein wenig wegzukommen, eröffneten die Organisatoren des jährlichen B-Boy-Jams in Deutschland, Funkin' Stylez, 2006 eine eigene Voguing-Kategorie in ihrem Wettbewerb - damit waren sie die ersten in Europa. Das Hallo war groß, doch inzwischen scheinen die Breakdancer und die Voguer sich mit Neugier aufeinander zu zu entwickeln.

Am Sonntag, einen Tag nach dem "Jingle Ball", fand - ebenfalls im HAU2 in Kreuzberg - eine Vorauswahl für das nächste Funkin'-Stylez-Finale 2016 in Bochum statt. Und wie die B-Boys und die Voguer hier zusammen in einem Ring tanzten und sich gegenseitig anfeuerten, wirkte es, als wollten sie sich noch einiges voneinander abschauen. Manche hatten danach sogar immer noch nicht genug und zogen gleich noch weiter: auf die Tanzfläche des Berghain.

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