Süddeutsche Zeitung

Völkermord in Ruanda:Im Namen der Toten

Nie wurden innerhalb so kurzer Zeit so viele Menschen getötet wie 1994 in Ruanda. Ein Ehepaar aus Paris spürt mutmaßliche Massenmörder dieses afrikanischen Genozids an den Tutsi auf und bringt sie vor Gericht.

Von Alex Rühle, Paris

Tag 38, der Prozess gegen Octavien Ngenzi und Tito Barahira nähert sich nach neun Wochen seinem Ende, die Anwälte der Nebenkläger halten ihre Plädoyers. Sie erklären eindringlich, dass die beiden ehemaligen Bürgermeister der ruandischen Gemeinde Kabarondo zu lebenslanger Haft verurteilt werden müssen, weil sie verantwortlich seien für das Massaker vom 13. April 1994. Da wendet sich einer dieser Anwälte in seiner Rede zu den Zuhörern im Gerichtssaal um und sagt, dass dieser ganze Prozess ja gar nie stattgefunden hätte ohne Alain und Dafroza Gauthier: "Ohne die beiden, ohne ihre Hartnäckigkeit, ohne ihre Reisen nach Ruanda, ihre jahrelangen Nachforschungen, wären die Angeklagten nie angeklagt worden, wären wir gar nicht hier, gäbe es keine Chance auf Gerechtigkeit."

Andere Menschen würden glitzern vor Stolz über ein derart wuchtiges Lob. Alain Gauthier sitzt ungerührt da, kurzes Hemd, graue Haare, dritte Reihe außen, und macht das, was er auch die letzten 37 Tage im Saal Nummer 3 des Pariser Geschworenengerichts gemacht hat. Er schreibt und schreibt und schreibt. Nach dem langen Prozesstag, zu Hause, transkribiert er dann jeweils seine Mitschrift, um diese Protokolle des Schmerzes und der Grausamkeit Nacht für Nacht ins Netz zu stellen.

"Einer muss das alles ja festhalten", sagt er achselzuckend in einer Pause. Er steht mit seiner Frau im Gerichtshof, eine Nachbarin hat Reissalat gebracht, Freunde wechseln sich ab, um das Ehepaar in den langen Prozesstagen mit Essen zu versorgen. Dieselbe Nachbarin wird Gauthier am Nachmittag einen Scheck über tausend Euro zustecken, schließlich kosten die Prozesse nicht nur Energie und alle Lebenszeit, sondern natürlich auch Geld. Geld, das die beiden nach 20 Jahren kaum noch haben. Ihre Organisation ist winzig, und wer interessiert sich schon für den Genozid in Ruanda? Die französische Presse jedenfalls nicht, der Prozess findet quasi ohne jede Öffentlichkeit statt.

Dabei kann man hier so viel lernen. Darüber, wie die Mächtigen am Ende meist davonkommen. Wie der Genozid die Überlebenden ins Schweigen und in Schuldgefühle zwingt. Oder darüber, wie diabolisch gut organisiert der hunderttägige ruandische Genozid war. Ob nun 800 000 oder eine Million Tote - nie wurden in der Geschichte der Menschheit so schnell derart viele Menschen ermordet. Dirigiert über den Sender "Radio-Télévision Libre des Mille Collines", der bis in den hintersten Winkel des Landes täglich dazu aufrief, "an die Arbeit zu gehen" und alle Tutsi zu ermorden. Organisiert meist von den Bürgermeistern, Leuten wie Octavien Ngenzi und Tito Barahira. Sie sollen in Kabarondo die Ermordung von mehr als 2000 Menschen veranlasst haben, die sich in ihre Kirche geflüchtet hatten.

Die Gauthiers haben sich Anfang der Siebzigerjahre kennengelernt, Alain arbeitete als Lehrer in Ruanda. Heute haben sie drei Kinder und drei Enkelkinder, ein französisch-ruandisches Großelternpaar, er Lehrer im Ruhestand, sie ehemalige Chemikerin. Eigentlich genießt man da den Lebensabend, besucht ab und zu Verwandtschaft. Nur dass Dafroza Gauthier eben keine Verwandtschaft mehr hat. Mehr als 80 Menschen hat sie verloren, keiner aus ihrer ruandischen Familie hat überlebt.

Vor Gericht sagte sie letzte Woche: "Der Genozid ist das absolute Böse. Das Böse, von dem man sich nie mehr erholt. Von dem man nie mehr heilt. Jeder versucht, danach auf seine Art zu überleben, um nicht im Nachhinein noch zu verschwinden. Was mich betrifft, so rette ich mich immer wieder neu, indem ich nach der Wahrheit und der Gerechtigkeit suche. Dieser Gerechtigkeit, die uns immer gefehlt hat: Zwischen 1959 und 1994 konnte man die Tutsi nach Lust und Laune töten. Straflosigkeit war die Regel. Wir Tutsi waren keine Menschen, sondern Ungeziefer."

Ihre eigene Mutter wurde erschossen, gleich zu Beginn des Genozids, in Kigali. Dafroza Gauthier beschrieb vor Gericht, wie sie Jahre später dabei war, als ein Massengrab geöffnet wurde. Sie hoffte, hier Überreste ihrer Mutter zu finden. Lauter Angehörige von Ermordeten waren gekommen, aus den USA, aus Neuseeland, jetzt standen sie um diesen immer größer werdenden Krater herum, in der Hoffnung, unter all den Skeletten, halbverwesten Leichen, abgetrennten Gliedmaßen sterbliche Überreste zu finden, die den Gespenstern ihrer Trauer wenigstens einen konkreten Ort zuwiesen. Am Ende waren nur zwei Leichname zweifelsfrei zu erkennen. Dafroza Gauthier hat ihre Mutter nicht gefunden, nur einen Armreif, von dem sie seither hofft, dass er ihr gehörte.

Belgische Freunde strengten 2001 einen Prozess in Brüssel an, bei dem vier ruandische Mörder zu Haftstrafen zwischen zwölf und 20 Jahren verurteilt wurden. Nach dem Urteilsspruch sagten sie zu den Gauthiers: "Und ihr? Wann fangt ihr in Frankreich damit an? Da sitzen doch Hunderte von denen." Am Tag danach gründete das Ehepaar Gauthier den Verein Collectif des parties civiles pour le Rwanda (CPCR) und machte sich auf die Suche. Eine Suche, die für den französischen Staat recht ungemütlich ist. Der Historiker Jacques Julliard hatte schon 1998 geschrieben: "Eines Tages werden wir uns der Frage nach der französischen Verantwortung stellen müssen. François Mitterrand war Präsident, als der Genozid in Ruanda stattfand. Frankreich hat das Verbrechen selbst nicht begangen, aber die zukünftigen Killer, die ihre mörderischen Intentionen nie versteckten, mit Waffen ausgerüstet." Mitterrand empfing die Präsidenten-Witwe Agathe Habyarimana, die Radio Mille Collines gegründet hatte und deren Familie eine entscheidende Rolle beim Völkermord zugeschrieben wird, nach ihrer Flucht ganz offiziell - sie lebt heute bei Paris.

So etwas spricht sich herum unter Mördern, viele flohen nach Frankreich und bauten sich hier neue Existenzen auf, als Ärzte, Priester, Hausmeister. Und während Länder wie die USA und Norwegen Genozidverbrecher an Ruanda ausgeliefert haben, gibt Frankreich solchen Auslieferungsanträgen nicht statt. Begründung: Es gebe dort keine neutrale Gerichtsbarkeit. Der französische Staat unternimmt aber von sich aus gelinde gesagt recht wenig, um den Tätern, die sich in Frankreich verstecken, selbst auf die Spur zu kommen oder den Prozess zu machen.

Die Gauthiers haben also auf eigene Faust gesucht, abends und an den Wochenenden, haben im Internet recherchiert, Überlebende getroffen, ein Netzwerk aufgebaut. 25 Anklagen haben sie ganz allein zusammengestellt. In Frankreich hat man sie öfter schon mit Serge und Beate Klarsfeld verglichen, dem Ehepaar, das Nazi-Kollaborateure vor Gericht brachte.

In all ihren Ferien flogen sie auf eigene Kosten nach Ruanda und reisten dann quer durchs Land, Massengräber zu inspizieren, Zeugen zu finden, sie zum Reden zu bringen und, schwerer noch, sie davon zu überzeugen, wie wichtig es ist, dass sie in Frankreich aussagen. Octavien Ngenzi haben sie dank eines Tipps auf Mayotte aufgestöbert, einer zu Frankreich gehörenden Insel nördlich von Madagaskar. Als die Gauthiers dann zu Ngenzi und dem Massaker von Kabarondo recherchierten, kam in den Erzählungen der überlebenden Dorfbewohner immer wieder Tito Barahira vor, Ngenzis Vorgänger als Bürgermeister. Einige sagten, er sei nach Frankreich geflohen. Gauthier suchte im Internet und fand nichts - bis er es mit dem Familiennamen von Barahiras Ehefrau versuchte. Treffer. In der Gegend von Toulouse. Das war 2013.

"Ça dure, c'est dur", sagt Gauthier, es dauert, das ist hart. Erst drei Prozesse wurden geführt. Obwohl es 25 Anklageschriften gibt. Im Jahr 2014 wurde ein Schlächter namens Pascal Simbikangwa verurteilt, Octavien Ngenzi und Tito Barahira wurden schon einmal, vor zwei Jahren, zu lebenslanger Haft verurteilt, das hier ist ihr Berufungsprozess. Es kamen Bauern aus Kabarondo, die noch nie zuvor in einem Flugzeug saßen, in den letzten Wochen nach Paris, um zu erzählen, wie Tito Barahira mit einem Speer in der Hand die Exekutionen am 13. April koordinierte. Wie Octavien Ngenzi die Mörder zur "Arbeit" antrieb. Wie erst mit Mörsergranaten und dann mit Macheten gemordet wurde, planvoll, systematisch. Barahira hat vor Gericht bis zuletzt behauptet, nichts mitbekommen zu haben von dem Massaker. Er habe sich an dem Tag um seine Kühe gekümmert und einen Transformator repariert. Auch Ngenzi sagt, er habe nichts mitbekommen. Der Staatsanwalt sieht es als erwiesen an, dass die beiden verantwortlich seien für eine "massive und systematische Praxis von Hinrichtungen" im Zuge eines "Plans zur Vernichtung" der Tutsi.

Das Leugnen kennen die Gauthiers. Keiner, sagen sie, habe sich je zu seinen Taten bekannt. "Es gehört geradezu zum Genozid dazu. Das Verbrechen ist so grauenhaft, dass man es nicht gestehen kann. Sie haben sich ein bürgerliches rechtschaffenes Leben aufgebaut, diese Existenz bräche zusammen, wenn sie gestehen." Gegen eben diese Leugnung arbeiten sie an. "Wir stehen hier im Namen der Toten", sagt Dafroza Gauthier, "deren Leben, Geschichten und Namen ausgelöscht werden sollten."

Alain Gauthier ist 70, seine Frau Dafroza 68. Die Kräfte schwinden, dabei gäbe es weiterhin so viel zu tun. Da ist dieser Arzt, Charles Twagira, der 1994 eine Hutu-Miliz befehligte, seit 2006 in Frankreich lebt, 2009 von einem ruandischen Gericht in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, aber in französischen Kliniken immer wieder Anstellungen findet. "Bei dem haben wir es immerhin jedes Mal geschafft, dass er wieder entlassen wird", sagt Alain Gauthier. Schlimmer für die beiden sind Fälle wie Wenceslas Munyeshyaka, ein Priester, dem die katholische Kirche in Frankreich Unterschlupf gewährte. Auch er wurde in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, durfte aber in Frankreich bis heute Pfarreien mitbetreuen.

Octavien Ngenzi und Tito Barahira wurden am Freitagabend zu lebenslanger Haft verurteilt.

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SZ vom 07.07.2018/cag
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